Ältere, multimorbide Patienten: Welche Pillen kann man absetzen? Und worauf muss man achten?

Ute Eppinger

Interessenkonflikte

11. April 2016

Mannheim – 64% aller Medikamente werden über 60-jährigen Patienten verordnet. Nebenwirkungen wie Schwindel, Benommenheit, Schlafstörungen, Unruhe und Verwirrung treten im Alter häufiger auf. Und nicht nur das: Unerwünschte Arzneimittelwirkungen sind für 5 bis 12% aller Krankenhauseinweisungen verantwortlich.

Welche Medikamente können bei alten, multimorbiden Patienten abgesetzt werden, und wie geht man dabei vor? Das war Thema eines Symposiums beim Kongress der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin in Mannheim (DGIM), das von der DGIM, der Deutschen Gesellschaft für Geriatrie (DGG) und der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM) ausgerichtet wurde [1].

„Als junger Arzt müsste man als erstes beigebracht bekommen: Wie setze ich Medikamente an, und wie setze ich sie auch wieder ab? Meistens lernt man am Anfang aber nur, wie man Medikamente ansetzt“, sagte der Internist und Geriater Dr. Olaf Krause. Dabei sei das Absetzen von Medikamenten genauso wichtig wie das Ansetzen, betonte der Oberarzt, der im Zentrum für Medizin im Alter der Henriettenstiftung Hannover arbeitet und am Institut für Allgemeinmedizin der Medizinischen Hochschule Hannover die Patientenversorgung leitet. Krause gab Tipps, wie man bei alten Patienten mit arterieller Hypertonie und bei Patienten mit Herzinsuffizienz Medikamente absetzen kann.

Hydrochlorothiazid – stimmt der Blutdruck, ist das Absetzen empfehlenswert

Krause verwies auf die Empfehlungen der Deutschen Hochdruckliga (DHL), der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie (DGK) und der European Society of Cardiology (ESC) und auf die HYVET-Studie: Deren Patienten waren im Mittel 82 Jahre alt; bei ihnen war es bei moderater Blutdrucksenkung (unter 150 mmHg) zu weniger Schlaganfällen, weniger Herzinfarkten und einer insgesamt geringeren Sterblichkeit gekommen. Daher sollte bei Patienten, die über 80 und noch körperlich fit sind, der Blutdruck auf Werte zwischen 140 mmHg und 150 mmHg eingestellt werden. „Der Zielwert verschiebt sich im Alter um 10 mmHg nach oben“, so Krause.

 
Als junger Arzt müsste man als erstes beigebracht bekommen: Wie setze ich Medikamente an, und wie setze ich sie auch wieder ab? Dr. Olaf Krause
 

Krause berichtete von einer 89 Jahre alten Patientin mit niedrigem Gewicht, die verwirrt, mit Halluzinationen und starkem Erbrechen in die Notaufnahme kam. Die Patientin litt an schwerer Hyponatriämie. Auf Nachfragen ergab sich, dass die Patientin ein Kombinationspräparat mit Hydrochlorothiazid (HCT) eingenommen hatte. „Bei älteren Patienten sehen wir diese Nebenwirkung sehr häufig.“ HCT sei ein gutes Blutdruck-Medikament, doch ältere Patienten, insbesondere Frauen mit niedrigem Körpergewicht, reagierten darauf besonders empfindlich.

Sobald es einmal zu einer Hyponatriämie gekommen ist, sollte HCT auf keinen Fall wieder angesetzt werden, denn HCT stimuliert das Antidiuretische Hormon (ADH), das Durstgefühl steigt stark an, durch das Trinken verlieren die Patienten Natrium. „Achten Sie bei älteren Patienten darauf, dass das Natrium kontrolliert wird. Und im Umkehrschluss gilt. Wenn Sie ältere Damen mit niedrig normalen Blutdruckwerten haben und sich fragen, welches Medikament abgesetzt werden kann, dann empfehle ich, HCT abzusetzen“.

Bei 20 bis 80 Prozent der über 65-Jährigen bleibt der Blutdruck nach Absetzen stabil

Eine 85 Jahre alte Patientin kam mit dem Verdacht einer hypertensiven Entgleisung in die Notaufnahme. Sie stand unter einer Vierfachkombination (Ramipril, Doxazosin, Clonidin, Amlodipin). Ihr war schwindelig, vor allem beim Aufstehen. Die 24-Stunden-Blutdruckmessung zeigte, dass ihre systolischen Werte leicht erhöht waren, der diastolische Druck aber maximal bei 75 und minimal sogar bei nur 37 mmHg lag. Der Schellong-Test ergab: Stand die Patientin auf, sackte ihr Blutdruck ab.

Beim Blutdruckmessen sollte grundsätzlich auf die Orthostase geachtet werden, betonte Krause. Ganz wichtig sei, den Blutdruck im Stehen zu messen, denn gerade ältere Menschen reagieren oft mit einem Blutdruckabfall beim Aufstehen.

 
Achten Sie bei älteren Patienten darauf, dass das Natrium kontrolliert wird. Dr. Olaf Krause
 

Krause empfiehlt, bei Absetzüberlegungen sowohl die Negativliste PRISCUS als auch die Positivliste FORTA zu Rate zu ziehen. Entsprechend PRISCUS wurden bei der Patientin Clonidin und Doxazosin abgesetzt, ihr Blutdruck blieb stabil. „Will man bei einem alten, multimorbiden Patienten ein Medikament absetzen, sollte man, entsprechend der PRISCUS-Liste, Doxazosin, Clonidin, Reserpin, Methyldopa favorisieren. Nach FORTA eher geeignet wären ACE-Hemmer, Kalziumantagonisten (beide FORTA-Kategorie A), weniger gut geeignet ist beispielsweise Spironolacton (FORTA-Kategorie C), schlecht sind Kalziumantagonisten vom Typ Verapamil (D) oder Clonidin (D).

Ein australischer Review aus 2008 zeigt, dass bei 20 bis 80% der über 65-jährigen Patienten der Blutdruck nach Absetzen eines Medikaments stabil bleibt. Bei welchen Patienten funktioniert es, bei welchen eher weniger? „Die ältere schlanke Dame, die unter Therapie normale Blutdruckwerte hat, wird eher davon profitieren als der ältere Herr, der seine Adipositas ins Alter gerettet hat. Bei dem ist Absetzen schwieriger und wird eher selten gelingen“. Kandidaten für ein Absetzen sind also eher schlanke Patienten mit niedrigerem Blutdruck.

Krause erinnerte daran, dass es Hinweise gebe, dass eine zu starke Blutdrucksenkung bei alten Patienten dem Gedächtnis eher schaden kann. So hatte eine Studie mit Patienten einer Gedächtnisambulanz gezeigt, dass eine sehr straffe Blutdruck-Einstellung die Kognition verschlechtern kann. Nach Absetzen der Blutdruckmedikamente verbesserte sich die Kognition auch nicht wieder.

„Eine endgültige Empfehlung kann man hier noch nicht geben“, so Krause, „aber man sollte im Hinterkopf behalten, dass bei älteren Patienten eine sehr strenge Blutdrucksenkung – Stichwort SPRINT-Studie – möglicherweise die Kognition negativ beeinflussen kann.“

Herzinsuffizienz: Auf die Kombination ACE-Hemmer, AT1-Antagonist und Spironolacton verzichte

Ein anderer Fall war der einer 89-jährigen herzinsuffizienten Patientin, die schwere Ödeme aufwies und dagegen mit Ramipril, Valsartan, Spironolacton, Digoxin, Furosemid und Simvastatin behandelt worden war. Mit Exsikkose stellte sich die Patientin in der Notaufnahme vor. Am Beispiel dieser Patientin zeigte Krause, dass bei Patienten mit Herzinsuffizien auf die Kombination aus ACE-Hemmer, AT1-Antagonist und Spironolacton besser verzichtet werden sollte. Im Fall dieser Patientin wurde die Kombination aus ACE-Hemmer und AT1-Antagonist beendet und Spironolacton deutlich reduziert (auf 25 mg). Furosemid und Digoxin wurden ebenfalls reduziert.

Krause gab zu bedenken, dass Spironolacton eigentlich nur für die systolische Herzinsuffizienz zugelassen ist, „gerade bei den älteren Patienten sehen wir aber viele mit diastolischer Herzinsuffizienz. Eigentlich machen wir da einen Off-Label-Use.“ Ohnehin hatte die TOPCAT-Studie – die Spironolacton bei diastolischer Herzinsuffizienz geprüft hat – keine wirklich guten Ergebnisse erbracht, Im Gesamtkollektiv konnte kein relevanter Einfluss des Aldosteronblockers auf kardiovaskuläre Morbidität und Mortalität im Vergleich zu Placebo nachgewiesen werden.

Absetzen von Antidementiva: Mit der Verschlechterung der Kognition muss man rechnen

Ob bei Antidementiva, Neuroleptika und Antidepressiva ein Absetzen möglich ist, und wie man im Zweifel dabei vorgeht, das erläuterte Prof. Dr. Klaus Hager, Chefarzt der Klinik für Geriatrie im Diakoniekrankenhaus Henriettenstift in Hannover.

Die Wirksamkeit von Cholinesterase-Hemmern bei Alzheimer-Demenz ist, was die Verbesserung der Kognition angeht, zwar belegt. Zu den unerwünschten Wirkungen gehören aber unter anderem auch Synkopen, Schwindel, Erbrechen, Muskelkrämpfe oder Harninkontinenz. In der FORTA-Liste sind die Cholinesterase-Hemmer und Memantin mit „B“ gekennzeichnet, für alte Menschen also lediglich beschränkt geeignet. In PRISCUS sind sie zur Behandlung der Alzheimer-Demenz empfohlen. Im Alltag wird Donepezil nicht so regelmäßig und langfristig verordnet, wie man das vielleicht erwarten würde. „Nach einem Jahr bekommen es noch 60 Prozent, nach fünf Jahren noch 30 Prozent der Patienten mit Demenz“, berichtete Hager.

In einer amerikanischen Studie wurde untersucht, wie man kontrolliert Cholinesterase-Hemmer absetzen kann. 295 Patienten mit mittlerer bis schwerer Alzheimer-Demenz und Donepezil-Therapie wurden in 4 Gruppen aufgeteilt: Nur Memantin (n = 76), nur Memantin-Placebo, Donepezil und Memantin sowie Donepezil und Memantin-Placebo (alle n = 73). Nur die Patienten mit kontinuierlicher Donezepil-Therapie zeigten kognitive Verbesserungen. Die Kombination Donezepil und Memantin zeigte keine Vorteile gegenüber Donezepil allein.

Auch eine Metaanalyse aus 2015 zeigt, dass sich die Kognition insgesamt verschlechtert und Verhaltensauffälligkeiten zunehmen, wenn man absetzt. In der S3-Leitlinie „Demenzen“ heißt es dazu: „Ein Absetzversuch kann nur vorgenommen werden, wenn Zweifel an einem günstigen Verhältnis an Nutzen und Nebenwirkungen aufgetreten sind.“

„In der Praxis sieht das dann so aus: Da kommt die Ehefrau und klagt: Der Zustand meines Mannes verschlechtert sich von Jahr zu Jahr. Kann man das Mittel nicht absetzen? Im Gespräch muss man dann den Angehörigen klar machen, dass es – wird das Mittel abgesetzt – nach sechs bis acht Wochen zu einer merklichen Verschlechterung der Kognition kommen kann. Das muss mit einkalkuliert werden“, erklärt Hager. Sind die Angehörigen einverstanden, gehe das in Ordnung.

 
Ein postoperatives Delir bessert sich aber oft innerhalb einer Woche, die meisten nach einem Monat. Prof. Dr. Klaus Hager
 

Aus Hagers Sicht sind keine ernsten Nebenwirkungen unter Antidementiva akzeptabel. Man sollte sie aber auch nicht einfach absetzen, weil der Patient in ein Pflegeheim kommt oder Nebenwirkungen aufweist, die nicht aus den Antidementiva resultieren.

Neuroleptika sind in Pflegeheimen häufig verzichtbar

Nach FORTA sollten älteren Menschen möglichst gar keine Neuroleptika gegeben werden, PRISCUS empfiehlt lediglich atypische Neuroleptika. Eine Studie aus 2005, die das Absetzen von Neuroleptika bei Parkinson-Patienten mit Psychose untersucht hat, zeigt aber, dass das Absetzen mit einem hohen Risiko einer erneuten Psychose verbunden ist, erinnerte Hager.

Anders sieht die Situation bei Neuroleptika-Verschreibungen bei Patienten mit postoperativem Delir aus: „Das wird häufig unkritisch verschrieben. Ein postoperatives Delir bessert sich aber oft innerhalb einer Woche, die meisten nach einem Monat“, dann könne über ein Absetzen nachgedacht werden.

Eine Arbeit über das Absetzen von Neuroleptika in Pflegeheimen zeigt, dass die Patienten nach Absetzen verbesserte Affekte aufwiesen und keine unerwünschten Nebenwirkungen. „Die Häufigkeit von Verhaltensproblemen stieg danach nicht an“, so Hager. Man könne im Pflegeheim wahrscheinlich die Hälfte der Neuroleptika reduzieren, ohne dass dies große Probleme gebe. Klar ist aber auch, dass Demenz-Patienten nach Absetzen von Neuroleptika unruhiger werden, wie die Ergebnisse einer Metaanalyse zeigen, die 9 Studien ausgewertet hatte.

In der Metaanalyse konnte in 5 Studien auch die Sterblichkeit untersucht werden: Bei diesen Patienten (mittleres Alter 80 Jahre und älter) war die Sterblichkeit in der Gruppe der Patienten geringer, die die Neuroleptika abgesetzt hatten – allerdings nicht signifikant. Dies spreche zwar für das Absetzen, aber da müsse man abwägen, rät der Experte – und vielleicht wenigstens die Dosis reduzieren oder beim Absetzen von Neuroleptika möglichst einen Gerontopsychiater hinzuzuziehen.

Der Unruhe von Patienten in Pflegeheimen könne mit einem anderen Pflegesetting begegnet werden: „Je mehr sich ein Pflegeheim auf den Bewohner einstellt, desto weniger Neuroleptika müssen gegeben werden.“ Eine Reduktion von Neuroleptika bei dementen Patienten lohne sich, wirbt Hager „Eine Demenz bleibt ja nicht zehn Jahre lang gleich, der Patient ändert sich“.

Leichte Depressionen sind ein Fall für psychosoziale Maßnahmen

 
Je mehr sich ein Pflegeheim auf den Bewohner einstellt, desto weniger Neuroleptika müssen gegeben werden. Prof. Dr. Klaus Hager
 

Welche Substanzen eignen sich für ältere Patienten mit Depressionen? FORTA und PRISCUS halten die SSRI (Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer) Sertralin, Escitalopram und Citalopram für solche Patienten als am ehesten geeignet. Dass Antidepressiva bei leichten Depressionen nur eingeschränkt wirksam sind, darauf deutet eine Arbeit aus dem British Journal of Psychiatry hin.

Schwierig ist das Absetzen von Antidepressiva nach Major Depression: 61% der älteren Patienten, die wegen schweren Depressionen medikamentös behandelt worden waren, entwickeln nach Absetzen von Antidepressiva weitere depressive Episoden, so eine amerikanische Studie. Auch kann es zum „Absetz-Syndrom“ kommen, das sich in Schlafstörungen und Stimmungsschwankungen äußert. Da das „Ausschleichen“ ein komplexer Prozess ist, rät Hager, bei mangelnder Erfahrung einen Gerontopsychiater hinzuzuziehen.

Bei welchen Symptomen würde er ein Absetzen in Erwägung ziehen? Hager nennt starke Übelkeit, Erbrechen, Durchfall, Blasenprobleme, Alpträume, aber auch Gewichtsabnahme bei sehr alten Patienten. Das Ansprechen auf ein neues Antidepressivum ist aber in der Regel gut. „Nach einem längeren Zeitraum kann man ein Absetzen also einmal probieren, obwohl es sein kann, dass das wiederum Depressionen auslöst.“

Die S3-Leitlinie unipolare Depression empfiehlt, bei schwerer Depression das Therapeutikum einzudosieren bis zur Standarddosis, bei älteren Patienten 4 bis 6 Wochen auszuprobieren und dann zu entscheiden, ob ein Therapieerfolg zu verzeichnen ist. Dann soll in eine Erhaltungstherapie übergegangen werden, wobei das Therapeutikum über die Remission hinaus eingenommen werden sollte.

 

REFERENZEN:

1. 122. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Inneren Medizin, 9. bis 12. April 2016, Mannheim

 

Kommentar

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