Angst vor Fehlern, Drängen der Patienten – erstes Fazit der DGIM-Initiative enthüllt Gründe für „Überversorgung“

Ute Eppinger

Interessenkonflikte

8. April 2016

Mannheim – Zu viele Kardio-CTs und bildgebende Verfahren beim Rückenschmerz, leichtfertige Verordnungen von Inhalationssystemen bei Asthma und COPD oder von psychotropen Wirkstoffen bei Älteren, aber auch zu viel Zurückhaltung bei Statin-Verordnungen oder derjenigen von Rehas bei COPD – mit ihrer Initiative „Klug entscheiden“ will die Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM) diagnostische und therapeutische Maßnahmen benennen, die oft nicht fachgerecht erbracht, zu häufig oder falsch angewendet werden.

Prof. Dr. Gerd Hasenfuß

Ziel ist, die Indikationsqualität zu stärken. Denn oft bekommen Patienten medizinische Untersuchungen und Therapien, die ihnen nicht nützen oder sogar schaden (Überversorgung), andere hilfreiche Methoden kommen dagegen zu selten zum Einsatz (Unterversorgung). Unmittelbar vor dem 122. Internistenkongress, der vom 9. bis 12. April in Mannheim stattfindet, stellte die DGIM jetzt erste Ergebnisse ihrer Initiative vor [1].

Zu Unter- oder Überversorgung kommt es aus Sorge der Ärzte, etwas Wichtiges zu unterlassen, oder weil Patienten auf Maßnahmen bestehen, oder aber auch aus Unkenntnis der Leitlinien, zählte Kongresspräsident Prof. Dr. Gerd Hasenfuß einige Gründe für nicht-adäquate Therapieentscheidungen auf.

Der Direktor der Klinik für Kardiologie und Pneumologie am Herzzentrum der Universität Göttingen ergänzte: „Die Vermutung liegt nahe, das ein Teil der Fälle von Über-und Unterversorgung darauf zurückzuführen ist, dass den Ärzten die notwendigen Informationen fehlen. Das Leitlinien-Wissen kommt oft nicht an, es ist aber auch sehr schwer, dies aus allen Fachbereichen stets parat zu haben“. Schließlich umfassten viele Leitlinien 150 oder noch mehr Seiten.

Überversorgung praktisch an der Tagesordnung

Im Rahmen der Initiative wollte die DGIM zunächst von ihren Mitgliedern wissen, welche Rolle Über- und Unterversorgung in ihrem Praxisalltag spielt. Befragt wurden 4.181 Ärzte und Ärztinnen, die Fragen waren gegliedert nach Überversorgung (überflüssige Leistungen) und Unterversorgung (zu selten durchgeführte sinnvolle Maßnahmen). „70 Prozent der Befragten gaben an, mehrmals pro Woche mit Überversorgung in ihrem Bereich konfrontiert zu sein“, berichtete Hasenfuß. 80% der Befragten sehen Überversorgung als Problem in der Patientenversorgung an. Dass notwendige Leistungen nicht erbracht werden, erlebt rund die Hälfte der Befragten weniger als ein Mal pro Woche, 22% mehrmals.

 
70 Prozent der Befragten gaben an, mehrmals pro Woche mit Überversorgung in ihrem Bereich konfrontiert zu sein. Prof. Dr. Gerd Hasenfuß
 

„Bei 80 Prozent der Befragten ist die Sorge vor Behandlungsfehlern ein Grund für Überversorgung, 63 Prozent nennen das Drängen von Patienten auf bestimmte Untersuchungen als Grund“, so Hasenfuß weiter. Nach den Folgen von überflüssigen Leistungen gefragt, antworten 93%, dass dies zur Steigerung der Gesundheitsausgaben führe, 67% meinen, dass dadurch Patienten potenziell verunsichert werden und 63% fürchten, dass Patienten dadurch Schaden zugefügt wird.

Wie kann das Ausmaß an Überversorgung am effektivsten reduziert werden? 71% der Befragten meinen, dass das durch regelmäßige Fortbildung erreicht werden könnte. 50% glauben, dass nach Publikation der „Klug entscheiden“-Empfehlungen (KEE) ein Abbau überflüssiger Leistungen eintreten wird.

Jeder Fachgesellschaft erstellt Positiv- und Negativ-Empfehlungen

Jeder der 12 an der Initiative teilnehmenden Fachgesellschaften hat 5 Positiv- und 5 Negativ-Empfehlungen erstellt. Diese KEE richten sich sowohl an Mediziner als auch an Patienten. Die Empfehlungen sollen auch im Gespräch mit dem Patienten eine wertvolle Hilfe sein, wenn es darum geht, gemeinsam eine Behandlungs-Strategie festzulegen.

Hasenfuß nannte ein Beispiel für Unterversorgung in der Kardiologie: So lassen sich Herzinfarkte und Schlaganfälle durch Cholesterinsenkung reduzieren. Das Mortalitätsrisiko nehme um 60% ab, wenn es gelinge, den ursprünglichen Blutfettwert mit Statinen zu halbieren. Doch würden diese Cholesterinsenker noch zu selten verordnet.

Dagegen könne auf andere Maßnahmen wie eine Computertomographie der Herzkranzgefäße bei Patienten ohne typische KHK-Anzeichen oft verzichtet werden. „Gerade kostenintensive bildgebende Verfahren werden viel zu häufig eingesetzt“, betonte Hasenfuß.

Asthma und COPD: Überversorgung mit Inhalatoren und Inhalativa

COPD, Bronchitis und Asthma – wie man in der Pneumologie klug entscheidet, erläuterte Prof. Dr. Berthold Jany, Chefarzt der Abteilung Innere Medizin der Missionsärztlichen Klinik am Akademischen Lehrkrankenhaus der Universität Würzburg und Präsident der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin (DGP) an 2 Beispielen:

Prof. Dr. Berthold Jany

„Eine deutliche Unterversorgung besteht bei der pneumologischen Rehabilitation nach Exazerbation einer COPD. Die Wirksamkeit einer Reha zum Muskelaufbau und Training der körperlichen Fitness ist zwar vielfach nachgewiesen, doch nur ein sehr geringer Teil der Patienten erhält nach COPD-Exazerbation auch diese Maßnahme“, berichtete Jany. Er ergänzte: „Eine solche Reha wirkt besser als die alleinige medikamentöse Therapie.“

Eine Überversorgung sieht die DGP dagegen bei der Versorgung mit Inhalatoren. Inhalativa sind bei Asthma und COPD Grundlage der medikamentösen Therapie. „Die Inhalationssysteme spielen dabei einen zentrale Rolle“, so Jany. Denn sie sind meistens nicht so einfach zu handhaben: „Bis zu 70 Prozent der Patienten wenden diese Geräte falsch an“, berichtete er. Seiner Erfahrung nach werden nach mangelhaftem Ansprechen und unzureichender Besserung der Atembeschwerden zu schnell weitere Inhalatoren und weitere Inhalativa verordnet. Sein Tipp deshalb: „Kein neues Medikament und kein neues Inhalationsgerät ohne ausführliche Patientenschulung.“

Bei Rückenschmerzen nicht gleich ein MRT

Prof. Dr. Elisabeth Märker-Hermann

„Nicht-Wissen verursacht in der Rheumatologie viel Unter- und Überversorgung“, betonte auch Prof. Dr. Elisabeth Märker-Hermann, Direktorin der Klinik Innere Medizin IV an den Dr. Horst Schmidt Kliniken Wiesbaden. Sie hob auch die Wichtigkeit des intensiven Patientengespräches hervor. Die Patientenversion der KEE befindet sich daher schon in Planung.

Eine Unterversorgung an Punktionen macht die DGRh bei Patienten mit geschwollenem Knie aus. Statt auf MRT und diverse Laborwerte zu setzen, sollte unverzüglich das Gelenk punktiert und das Punktat untersucht werden. „Dahinter kann eine Gicht stecken oder eine bakterielle Arthritis, die sehr schnell zur Gelenkzerstörung führt. Bei dieser Symptomatik wird viel zu selten punktiert“, kritisierte Märker-Hermann.

Prof. Dr. Martin Wehling

Andererseits erhalten Patienten mit Rückenschmerzen oft unnötig viel Diagnostik. „Unsere Empfehlung lautet: Bei Rückenschmerzen, die weniger als sechs Wochen andauern soll nach Anamnese und Ausschluss von Warnhinweisen (Fieber, Tumorvorgeschichte) kein MRT gemacht und nicht geröntgt werden. Natürlich wird der Patient schmerztherapeutisch behandelt. Wir sollten einem Patienten aber nicht durch Röntgen schaden oder ihn durch MRTs verunsichern – und bei keinem über 30-Jährigen findet man nicht irgendetwas im MRT“, schloss sie.

Demenz als Medikamentenfolge

1,5 Millionen Menschen leiden in Deutschland an einer Form der Demenz. Bis 2050 wird sich diese Zahl verdoppeln. Trotz Antidementiva lässt sich der Krankheitsverlauf kaum beeinflussen. Bei fehlender Kausaltherapie seien deshalb modifizierbare Demenz-Ursachen von besonderem Interesse, betonte Prof. Dr. Martin Wehling. „Medikamente sind mit der wichtigste reversible Grund für kognitive Defizite und das Delir, das immerhin bei 12 bis 50 Prozent älterer stationärer Patienten beobachtet wird“, erinnerte der Direktor der Klinischen Pharmakologie der Medizinischen Fakultät Mannheim.

Ein Drittel der kognitiven Defizite gehe auf Arzneimittel zurück, dabei sei die aufgrund zunehmender Multimorbidität im Alter häufiger werdende Polypharmazie ein gravierender Risikofaktor. „Ein 80-jähriger Patient nimmt im Durchschnitt sieben bis acht Arzneimittel ein“, so Wehling. Psychotrope Arzneimittel wie Benzodiazepine, Opiate, trizyklische Antidepressiva und atypische Neuroleptika seien häufig die Ursache für die Entstehung kognitiver Defizite, aber auch „periphere“ Arzneimittel wie Oxybutynin oder Fluorchinolone könnten am Entstehen eines Delirs beteiligt sein.

 
Gerade kostenintensive bildgebende Verfahren werden viel zu häufig eingesetzt. Prof. Dr. Gerd Hasenfuß
 

„Neuroleptika vervierfachen das Delir-Risiko, Benzodiazepine verdreifachen es, Opiate verdoppeln es“, so Wehling: „Eine rationale Arzneimitteltherapie ist deshalb der wichtigste Schüssel der Prävention.“

Die meisten delirogenen Substanzen sind auf Negativlisten (Tools Beers-Liste und PRISCUS-Liste) vermerkt und können durch positiv bewertete Substanzen – beispielsweise nach der FORTA-Klassifikation – ersetzt werden. Klug entscheiden bei älteren Patienten bedeute deshalb: Zusammen mit einer Behandlung anderer Ursachen (Dehydrierung, Infekte, Fieber) sowie mit schonenden OP-Methoden sollte vor allem die Anwendung von Psychopharmaka als Hauptursache kognitiver Einschränkungen vermieden oder optimiert werden.

„Key-Feature-Fälle“ am PC helfen Studierenden, sich klug zu entscheiden

Prof. Dr. Tobias Raupach

„Eine 40-jährige Frau stellt sich mit Schmerzen in der Brust vor, die bis in den rechten Arm ausstrahlen. Sie sind der behandelnde Arzt! Was tun Sie?“ Solche und ähnliche Fragen müssen Medizinstudierende in Göttingen am Computer beantworten und damit zeigen, dass sie die richtige Reihenfolge in der Diagnostik und Therapie häufiger Erkrankungen beherrschen. „Es geht dabei um kluges Entscheiden“, berichtete Prof. Dr. Tobias Raupach, Oberarzt der Klink für Kardiologie und Pneumologie am Herzzentrum der Universität Göttingen.

Doch Vorlesungen und Seminare seien noch zu wenig darauf ausgelegt, die richtige Auswahl von Untersuchungs-und Behandlungsmethoden unter Berücksichtigung möglicher Risiken, unnötiger Kosten und verpasster Chancen zu diskutieren. „Das problemorientierte Lernen gibt dazu zwar prinzipiell die Möglichkeit, doch es ist personal- und zeitintensiv“, erklärte Raupach, der den Bereich Medizindidaktik und Ausbildungsforschung im Studiendekanat der Medizinischen Fakultät leitet. Auch garantiere das problemorientierte Lernen nicht, dass alle Studierenden die gleichen Inhalte lernten.

 
Medikamente sind mit der wichtigste reversible Grund für kognitive Defizite und das Delir, das immerhin bei 12 bis 50 Prozent älterer stationärer Patienten beobachtet wird. Prof. Dr. Martin Wehling
 

Seit dem Sommersemester 2013 lösen Studierende in Göttingen deshalb realistische Patientenfälle am PC. Bei diesen „Key Feature-Fällen“ werden Entscheidungen getroffen, die sich direkt auf den Behandlungserfolg auswirken. Bei einem Patienten mit Verdacht auf Herzinfarkt muss innerhalb von 10 Minuten ein EKG geschrieben werden. „Ein angehender Arzt, der diese Regel nicht kennt, kann seinem Patienten schaden“, so Raupach.

In Göttingen wurden über 65 solcher Patientenfälle mit je 5 Entscheidungs-Aufgaben entworfen, seit Mitte 2013 haben knapp 500 Studierende diese Fälle bearbeitet und knapp 100.000 einzelne Antworten eingegeben. Die DGIM fördert nun ein Projekt, in dem „Key-Feature-Fälle“ passend zu den „Klug entscheiden“-Empfehlungen erstellt werden.

Die Auswertung der Antworten zu den „Key-Feature-Fällen“ zeigt: Die Bearbeitung hilft den Studierenden dabei, wichtige Inhalte längerfristig zu behalten, bestätigte Raupach: „Der Lernerfolg war über mindestens ein halbes Jahr stabil. Das Durcharbeiten der ‚Key-Feature-Fälle‘ ist effektiver als reines Lesen.“ Auch die Studierenden schätzten diese Art des Lernens, denn es gebe praktisch keine Fehltermine.

Die Antworten zu den „Key-Feature-Fällen“ offenbaren auch, wo noch Verbesserungsbedarf im therapeutischen Handeln besteht: So dachten 25% der Studierenden zunächst nicht daran, ihrem Herzinfarktpatienten, der starker Raucher war, eine Rauchentwöhnung zu verordnen.

 

REFERENZEN:

122. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin e.V., 9. bis 12. April 2016, Mannheim

 

Kommentar

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