Berlin – „Mit dem Begriff der Präzisionsmedizin oder auch der personalisierten Medizin verbinden viele Krebspatienten ein beachtliches Maß an Hoffnung.“ Dies betonte Prof. Dr. Eva Winkler, Leiterin des Schwerpunktes „Ethik und Patientenorientierung in der Onkologie“, Nationales Centrum für Tumorerkrankungen, Universitätsklinik/DKFZ Heidelberg, bei einem Symposium auf dem Krebskongress in Berlin [1].
„Diese Hoffnung erfüllt sich aber nur für einen Teil der Patienten, und oftmals besteht der Therapieerfolg nicht in einer Heilung, sondern in einem mehr oder weniger deutlichen Gewinn an Lebenszeit“, so die Onkologin. Deshalb sei zu fragen, ob die genetische und genomische Diagnostik „über die Prognose und Behandlungssteuerung hinaus Bedeutung für das Coping mit der Erkrankung hat“.
Die durch Gendiagnostik erhaltenen Informationen zur Prognose seien per se wertvoll, beantwortete Winkler die Frage gleich selbst: Der Arzt könne dem Patienten mitteilen, welcher Lebenshorizont ihm noch verbleibt und dabei übersetzen, was das für das Leben des Patienten und seiner Familie bedeuten kann. Er könne Chancen und Belastungen durch eine Weiterführung der Therapie benennen und das Nutzen-Risiko-Verhältnis erläutern, das auch zu Ungunsten der Fortführung dieser Therapie ausschlagen kann. „So kann der Betroffene seine Hoffnungen, Ziele und Prioritäten dem verkürzten Zeithorizont anpassen“, meinte Winkler.
Patienten erfahren zu wenig über ihre Prognose und die Grenzen ihrer Therapien
Aber gerade die prognostischen Aussagen kommen nicht immer beim Patienten an, gibt sie zu bedenken. So wurden in einer Studie aus dem Jahre 2012 insgesamt 1.193 Patienten mit Lungen- oder Kolorektalkarzinom im Stadium IV (mit Fernmetastasen), die 4 Monate nach der Diagnose noch am Leben waren und eine Chemotherapie erhielten, nach ihren Erwartungen gefragt.
„69 Prozent der Patienten mit metastasiertem Lungen- und 81 Prozent derjenigen mit metastasiertem Darmkrebs waren sich nicht darüber im Klaren, dass die Chemotherapie nicht in der Lage sein würde, ihre Krebserkrankung zu heilen“, berichtete Winkler. Noch weiter „hinterherhinken“ würden oftmals die Familienangehörigen, was Verständnis und Akzeptanz der Erkrankung und der Therapielimits angehe.
Die meisten Patienten wollen über Therapiebegrenzung reden
In einer eigenen Umfrage mit 194 Heidelberger Krebspatienten, deren Ergebnisse sie beim ASCO 2014 präsentiert hatte, ermittelte Winkler die Präferenzen der Patienten entweder für eine höhere Lebensqualität oder für ein längeres Leben. Die Befragten litten an Prostata-, Brust- oder Lungenkrebs, bei 3 von 4 Umfrageteilnehmern war die Erkrankung bereits metastasiert und bei jedem zweiten lag die verbleibende Lebenserwartung unter einem Jahr.
Es zeigte sich, dass sich etwas mehr Patienten für eine höhere Lebensqualität entscheiden würden, wenn sie die Wahl hätten, und dass die übrigen Patienten – mit dem vorrangigen Wunsch nach einem längeren Leben – eher von ihren nächsten Angehörigen beeinflusst waren. Einige hatten auch gar keine klare Präferenz. Gemeinsam war jedoch fast allen Patienten (80%), dass sie mit ihren Ärzten über das Thema „vorausschauende Therapieplanung und Therapiebegrenzung“ hätten reden wollen. Nur bei 25% war jedoch bis zu diesem Zeitpunkt ein solches Gespräch erfolgt.
Hemmnisse für ärztliches Schweigen überwinden
Befragt man Ärzte nach den Ursachen für die Zurückhaltung, so werden in einer Studie 5 Gründe angeführt:
- die Befürchtung, dem Patienten die Hoffnung zu nehmen
- und ihn in eine Depression zu treiben,
- die Annahme, dass der Beginn einer Palliativtherapie letztlich zu einer verkürzten Überlebenszeit führen wird,
- Unsicherheit darüber, ob die Prognosen zur Überlebenszeit überhaupt zutreffen und
- die Tatsache, dass solche Gespräche unangenehm und niemals einfach sind.
„Die 4 ersten Gründe lassen sich weitgehend widerlegen“, so Winkler: „Patienten, die ihre Prognose kennen, sind im Durchschnitt weder depressiver und hoffnungsloser, noch sterben sie früher und mit unserer Vorhersage liegen wir in der Regel gar nicht so weit daneben.“ Es bleibe aber das Problem, dass Gespräche über Therapiebegrenzung und das bevorstehende Lebensende des Patienten immer auch den Arzt belasten.
Die eigentliche Herausforderung liegt dabei einer weiteren Studie zufolge wohl weniger in der Mitteilung der Diagnose oder der Information über Rezidive, sondern in der Frage, ob man nun die tumorspezifische Therapie beenden und sich auf die supportive Therapie konzentrieren sollte (best supportive care) – das fällt vielen Ärzten, auch Onkologen, schwer.
Ärzte haben das Handwerkszeug auch für schwierige Gespräche
Trotzdem sollte die individuelle und ausführliche Aufklärung über die Möglichkeiten der Palliativtherapie nicht bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben werden. „Angehende Ärzte absolvieren im Laufe ihres Medizinstudiums bis zu 200 Stunden Kommunikationstraining“, betont Winkler, „sie haben die Fähigkeiten zu solchen Gesprächen und die kann man auch trainieren.“
Bei der strukturellen (auch zeitlichen) Einbettung dieser Arzt-Patienten-Gespräche in den Klinikalltag könnten Handlungsempfehlungen helfen, wie sie beispielsweise in der EPAL-Studie am Klinikum der Universität München-Großhadern gemeinsam mit Winkler zusammengetragen und evaluiert wurden, betonte die Expertin. „Diese Leitlinie soll dazu beitragen, den Patienten eine realistische Krankheitsverarbeitung zu ermöglichen, Übertherapien zu vermeiden, alle Betroffenen in die Entscheidung zur möglichen Therapiebegrenzung einzubeziehen und insgesamt den Entscheidungs- und Kommunikationsprozess zu strukturieren.“
Die insgesamt 22 Handlungsempfehlungen beinhalten auch „ereignisorientierte Zeit- und Triggerpunkte“, an denen eine tiefergehende Beratung des Patienten zur Supportivtherapie und/oder zur Therapiebegrenzung angezeigt wäre, etwa beim Start einer Zweitlinientherapie wegen Erkrankungsprogression oder beim Beginn der letztmöglichen Therapielinie. Ebenso ist jede deutliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes des Patienten ein geeigneter Anlass zu Aufklärungsgesprächen.
„Wären Sie überrascht, wenn … ?“ – der späteste Termin für ein Gespräch
Die Ärztin und Gesundheitsethikerin Winkler nennt einen Zeitpunkt, an dem der Therapeut sich spätestens zur Offenheit entschließen sollte – sofern der Patient überhaupt eine offene Aufklärung wünscht: „Wenn der Arzt sich die Surprise-Question mit Ja beantworten muss.“ Die Suprise-Frage beinhaltet nicht etwa eine angenehme Überraschung, sondern sie lautet: „Wären Sie überrascht, wenn Ihr Patient in einem halben Jahr noch am Leben wäre?“ Wenn dies so ist, dann allerspätestens ist ein klärendes Gespräch angezeigt, es sei denn, der Patient lehnt dies kategorisch ab.
Auf Nachfrage von Medscape Deutschland erläutert Winkler, welche Punkte unbedingt in einem solchen Gespräch geklärt werden sollten: „Ziel sollte es sein, sich gemeinsam mit dem Patienten auf persönlich relevante und realistische Zielperspektiven zu verständigen. Dazu gehört die Abwägung, ob für den Patienten die Lebensqualität oder ein Gewinn an Lebenszeit im Vordergrund steht und welchen Stellenwert intensivmedizinischer Maßnahmen in dieser Krankheitsphase haben.“
Weiter führt sie aus: „Darüber hinaus sollte mit dem Patienten und seiner Familie besprochen werden, in welchem Versorgungskontext er bis zum Tod betreut werden möchte – im Tumorzentrum oder doch lieber heimatnah, auf einer Palliativstation oder in ambulanter palliativer Betreuung. Auch ein psychoonkologisches Unterstützungsgespräch kann dem Patienten und der Familie angeboten werden.“
Abschließend betont die Expertin: „Unsere Patienten können die existenzielle Bedrohung durch die tödliche Erkrankung mit professioneller Begleitung deutlich besser verarbeiten. Die persönliche Beratung zu Prognose, Therapiebegrenzung und Palliativtherapie ist unabdingbarer Bestandteil einer personalisierten Medizin, die diesem Namen auch gerecht wird.“
REFERENZEN:
1. 32. Deutscher Krebskongress, 24. bis 27. Februar 2016, Berlin
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Diesen Artikel so zitieren: Zur personalisierten Krebsmedizin gehört auch eine persönliche Beratung zur Therapiebegrenzung am Lebensende - Medscape - 6. Apr 2016.
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