Lissabon – Zur vollständigen Behandlung der Migräne gehört auch eine Verhaltenstherapie. Diesem Postulat von Prof. Dr. Randall Weeks stimmte nach intensiver Diskussion auf dem 10th World Congress on Controversies in Neurology in Lissabon der weitaus größte Teil der anwesenden Fachärzte zu [1].

Prof. Dr. Randall Weeks
Verhaltenstherapie unterstützt Medikation
Dass Medikamente alleine längst nicht allen Patienten mit chronischer Migräne helfen können, sei bekannt und habe seinen Niederschlag auch in den Leitlinien verschiedener Fachgesellschaften gefunden, erinnerte Weeks, der sowohl Direktor des New England Institute for Behavioural Medicine in Stamford, USA, als auch Präsident der Headache Cooperative for New England ist. „Gründe, es mit einer Verhaltenstherapie zu versuchen, sind neben einem mangelnden Ansprechen auf Medikamente auch ein langer, exzessiver Gebrauch von Analgetika, medizinische Kontraindikationen, großer Stress und nicht zuletzt die Präferenzen der Patienten.“
Darüber hinaus gäbe es aber weitere Argumente, die für den zusätzlichen Einsatz einer Verhaltenstherapie sprächen. Sie sei nämlich gemeinsam mit einer pharmakologischen Behandlung wirksamer als jede dieser Therapieformen für sich alleine und sie scheint außerdem das langfristige Therapieergebnis zu verbessern. „Es ist ein Fehler, pharmakologische Interventionen als konträr zu verhaltensbasierten Therapien anzusehen“, sagte Weeks, und plädierte dafür, nicht länger zwischen organischen und psychogenen Ursachen zu unterscheiden.
Bei Migräne handele es sich um ein multidimensionales Leiden, bei dem kognitive, emotionale und Verhaltensfaktoren ebenso eine Rolle spielten wie biologische Prozesse. Überdies würden mit zunehmender Schwere und Dauer der Erkrankung fehlgeleitete Lernprozesse und falsches Verhalten eine immer größere Rolle spielen, so die Erfahrung des Neurologen.
Evidenzgrad A für Entspannungstraining und Verhaltenstherapie
„Mehr als 100 empirische Studien haben die Wirksamkeit von Verhaltenstherapien untersucht und sind in die Empfehlungen der American Academy of Neurology eingeflossen.“ Dort kommt man zu dem Schluss, dass Entspannungstraining mit und ohne Biofeedback sowie kognitiv-verhaltensbasierte Therapien wirksame Behandlungsoptionen bei Migräne sind (Evidenzgrad A).
Mit dem Evidenzgrad B stuften die US-Experten die Aussage ein, dass eine Kombination aus medikamentöser und Verhaltenstherapie additive Verbesserungen bewirkt. Metaanalysen von Andrasik und Nicholson untermauerten zudem die Wirksamkeit verschiedener nicht-pharmakologischer Interventionen, so Weeks.
Zu den durch eine Verhaltenstherapie modifizierbaren Risikofaktoren für Migräneattacken gehören laut Weeks Medikamentenmissbrauch, Stress, Übergewicht, Schlafapnoe und Schnarchen.
Verhaltenstherapie kann Compliance verbessern
Als einen wichtigen Faktor, der den Erfolg der Migränetherapie mindern kann, nannte Weeks die Nichtbeachtung ärztlicher Ratschläge und Einnahmenvorschriften für Medikamente. Auf diese Probleme könnte eine Verhaltenstherapie ebenfalls Einfluss nehmen.
So kommen einer Studie zufolge 40% der Patienten nach der Erstkonsultation nicht wieder in die Praxis. Ganze 70% nutzen ihre Arzneien bei einer Migräneattacke nicht optimal und 25 bis 50% halten sich nicht an die Vorgaben für die prophylaktische Einnahme von Medikamenten.

Prof. Dr. Frank Andrasik
In einer anderen Studie fanden Forscher heraus, dass etwa die Hälfte aller Patienten ihre Medikation im Falle einer Attacke für den vermeintlich größeren nächsten Anfall aufheben. Außerdem führten 35% der Patienten ihre Notfallarznei nicht mit sich, als der Anfall begann. „Dass sind die Probleme, die wir durch eine Verhaltenstherapie beeinflussen können, oder zumindest durch intensive Aufklärung“, so Weeks.
All dies seien gute Argumente, räumte Weeks Gegenredner Prof. Dr. Frank Andrasik, Leiter des Department of Psychology an der University of Memphis, USA, ein. Er selbst habe den Großteil seiner Karriere mit der Suche nach Argumenten für eine Verhaltenstherapie bei Migräne verbracht, sehe sich nun aber in der Pflicht, den konträren Standpunkt einzunehmen: „Nein, eine Verhaltenstherapie ist für die vollständige Behandlung der Migräne nicht notwendig. Viele Patienten erreichen mit Medikamenten alleine bereits jenes Maß an Erleichterung, das sie suchen.“
Triptane alleine schon wirksam genug?
Andrasik verwies auf eine aktuelle Übersicht zur Behandlung von Migräneattacken mit Triptanen, die alleine 133 randomisierte Studien enthält und die die Wirksamkeit dieser Maßnahme belegt. „Verhaltensbasierte Therapien gegen Migräneattacken habe ich gesucht, aber nur eine Studie gefunden. Beweise für die Wirksamkeit konnte ich darin nicht finden.“ Das gleiche gelte für die palliativen Effekte der Verhaltenstherapie.
Frage man nach der prophylaktischen Wirkung einer Verhaltenstherapie bei Migräne, so gäbe es zwar eine ganze Reihe von Metaanalysen, die gute Effektgrößen berichten. Allerdings sei in keiner dieser Studien die Wirkung der gleichzeitig verabreichten Medikamente adäquat kontrolliert worden, so Andrasik.
Um hier zu belastbaren Schlussfolgerungen zu kommen, bräuchte man eine Population von de-novo-Patienten mit bereits stabilisiertem Kopfschmerzmuster, die dann auf die jeweiligen Therapien randomisiert werden müssten: Medikamentös, Verhaltenstherapie oder beides. Solch eine Studie wurde bereits im Jahr 2010 vorgelegt, wobei zusätzlich zur optimierten Akuttherapie als Medikamente Beta-Blocker zum Einsatz kamen. Primäres Studienziel war die Reduktion der Migräneattacken über 30 Tage, sekundäres Studienziel die Reduktion der Tage mit Migräne in diesem Zeitraum.
Die Autoren kommen dabei zu dem Schluss, dass „die Addition der Kombination aus Beta-Blockern und verhaltenstherapeutischem Migränemanagement das Ergebnis der optimierten Akuttherapie verbessert hat, nicht aber die Zugabe von Beta-Blocker oder verhaltenstherapeutischem Migränemanagement alleine“. Und weiter: „Die Kombination aus Beta-Blockern und verhaltenstherapeutischem Migränemanagement könnte das Ergebnis bei der Behandlung häufiger Migräneattacken verbessern“, resümieren die Forscher. De facto hatte die Kombinationstherapie die Zahl der Migräneattacken um durchschnittlich 3,3 in 30 Tagen gesenkt, Beta-Blocker um 2,1 und die Verhaltenstherapie um 2,2.
Zweifel am Zusatznutzen der Verhaltenstherapie
Bei näherer Betrachtung wird deutlich, dass die mit Placebo und den Beta-Blockern erreichten Verringerungen der Migräneattacken fast deckungsgleich mit den Verringerungen durch die Verhaltenstherapie waren. Die Zahl der Migränetage war unter Verhaltenstherapie gegenüber Placebo nicht geringer – im Gegensatz zu den Beta-Blockern, die geringfügig besser abschnitten als das Placebo. Lediglich die Kombination aus beiden Verum-Behandlungen war gegenüber den anderen Behandlungsarmen klar besser gewesen.
Andrasik sieht in diesen Daten bestenfalls eine minimale Unterstützung für die These vom Zusatznutzen der Verhaltenstherapie und fordert deshalb weitere Studien mit einem adäquaten Design, bevor man die Verhaltenstherapie zum integralen Bestandteil jeglicher Migränetherapie macht. „Da eine substanzielle Anzahl von Migränepatienten gut auf prophylaktische Arzneien anspricht, muss man sich fragen, worin der Nutzen einer zusätzlichen Psychotherapie besteht.“
Dieser Argumentation wollte das Gros der anwesenden Neurologen indes nicht folgen. Sie hatten bereits vor der Diskussion mehrheitlich der These zugestimmt, dass die Verhaltenstherapie zum kompletten Management der Migräne dazu gehört und in der Abstimmung danach hatte dieses Lager nochmals deutlich an Anhängern gewonnen.
REFERENZEN:
1. 10th World Congress on Controversies in Neurology (CONy), 17. bis 20. März 2016, Lissabon
© 2016 WebMD, LLC
Diesen Artikel so zitieren: Verhaltenstherapie bei Migräne: Viele Neurologen sind von ihrem Nutzen überzeugt, doch die Datenlage ist schlecht - Medscape - 4. Apr 2016.
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