Wissenschaftler des National Institute on Drug Abuse (NIDA) in den USA warnen vor einer möglichen Zunahme bislang unbekannter kognitiver Schäden und Verhaltensstörungen, die der verbreitete Konsum von Cannabis demaskieren könnte.
Ein der unter der Leitung von NIDA-Direktorin Dr. Nora Volkow entstandener Review betont, dass vulnerable Teile der Bevölkerung, und hier besonders die Jugendlichen, vermehrt den toxischen Wirkungen der Droge ausgesetzt sind, seitdem Konsum von Cannabis in der Freizeit und zu medizinischen Zwecken legal ist. Der Review ist in der März-Ausgabe von JAMA Psychiatry veröffentlicht worden [1].
„Drogen sind mächtige Disruptoren der Hirnprogrammierung“
„Das ist kein spezifisches Cannabis-Problem“, sagt Volkow gegenüber Medscape Medical News. „Ein unreifes Gehirn sollte einfach keinen Drogen ausgesetzt sein. Punkt.“ Volkow erklärt, dass sich das junge Gehirn noch in einer „Programmierungsphase“ befinde, in der alles, was der Jugendliche tue oder dem er ausgesetzt sei, die finale Architektur und Vernetzung des Gehirns beeinflusse.
„Drogen sind mächtige Disruptoren der Hirnprogrammierung, da sie direkt das Neural Pruning (die Entfernung überflüssiger neuronaler Strukturen) sowie die Vernetzung der verschiedenen Hirnareale beeinflussen“, erläutert sie.
Kurzfristig könne sich diese Art der Interferenz negativ auf die schulische Leistungsfähigkeit auswirken. Langfristig bestehe die Gefahr, dass die verhaltensbezogene Anpassungsfähigkeit, die psychische Gesundheit und ganze Lebensbahnen Schaden nähmen.
Gegenwärtig haben 4 US-Bundesstaaten – Colorado, Washington, Oregon, Alaska – und Washington, D.C. den Freizeitkonsum von Cannabis für Erwachsene freigegeben. In 23 anderen Staaten einschließlich Washington, D.C. gibt es Regelungen für den medizinischen Konsum von Cannabis.
Aufgrund dieser Legalisierungswelle hielten Volkow und ihre Mitarbeiter eine fokussiertere und tiefer gehende Untersuchung des Konsums und seiner Auswirkungen für dringend erforderlich.
Beweislage für funktionelle und strukturelle Hirnveränderungen noch widersprüchlich
Die Review-Autoren schreiben: „Es gibt immer mehr Beweise dafür, dass besonders das junge Gehirn für die negativen Auswirkungen von Cannabis anfällig ist.“
So haben mehrere Studien gezeigt, dass die neuropsychologischen Beeinträchtigungen größer sind, wenn schon früh mit dem Konsum begonnen wird. Und bei anhaltendem Konsum ab der Adoleszenz kam ab dem 13. Lebensjahr zu einem neuropsychologischen Abbau, der bis zum 38. Lebensjahr anhielt. Dies wurde nicht beobachtet, wenn der Cannabiskonsum erst im Erwachsenenalter begann.
Es gibt zudem laut Bericht „ziemlich eindeutige Evidenz“ für durch Cannabis verursachte strukturelle Veränderungen in mehreren Hirnarealen, wenngleich bei einigen Personen ein gleichzeitiger Alkoholkonsum erforderlich ist und die Veränderungen nicht durch Cannabis allein ausgelöst werden.
Durch funktionelle MRT-Untersuchungen ließen sich Veränderungen der neuronalen Aktivität bei Cannabiskonsumenten nachweisen, wie etwa eine Beeinträchtigung des Arbeitsgedächtnisses.
Die Autoren weisen jedoch darauf hin, dass Unterschiede bei der neuropsychologischen Funktion und der Hirnstruktur zwischen Cannabiskonsumenten und Nichtkonsumenten schon vor Beginn des Drogenkonsums bestanden haben könnten.
Die Beweislage, die für funktionelle und strukturelle Hirnveränderungen bei Cannabiskonsumenten spricht, ist bis dato widersprüchlich, sodass auf beiden Gebieten weitere Untersuchungen erforderlich sind.
Macht Cannabis motivationslos?
„Es gibt sowohl präklinische als auch klinische Evidenz, die Cannabiskonsum für ein amotivationales Syndrom verantwortlich macht“, sagt Volkow. Kennzeichen dieses Syndroms sind Apathie und Konzentrationsstörungen.
Sie weist ferner darauf hin, dass anhaltender intensiver Konsum mit schwachen schulischen Leistungen assoziiert sei. Es sei auch wahrscheinlich, dass ein Motivationsdefizit das Lernen behindere, ergänzt sie, da Tetrahydrocannabinol (THC), der berauschend wirkende Inhaltsstoff von Cannabis, das Lernen am Erfolg beeinträchtige.
„Das Motivationsdefizit chronischer Cannabiskonsumenten könnte auch dem Umstand geschuldet sein, dass der Konsum selbst zur Hauptmotivation geworden ist“, schreibt Volkow, „sodass andere Aktivitäten, wie z.B. die Hausaufgaben, in der persönlichen Belohnungshierarchie absinken.“
Daher fordert sie die Klärung der Frage, ob eine höhere THC-Konzentration auch ein höheres Risiko für ein Motivationsdefizit oder eine Suchtentwicklung bedeutet.
Zusammenhang zwischen Cannabis und Psychosen unklar
Unklar ist auch noch, ob Cannabis psychische Störungen und vor allem Psychosen herbeiführen kann. „Es ist unstrittig, dass Cannabis mit einem hohen THC-Gehalt eine akute psychotische Episode auslösen kann“, schreibt Volkow. Es sei jedoch unklar, inwieweit Cannabis zu einer Schizophrenie führen kann, wobei Konsens herrsche, dass die Erkrankung bei Personen mit einem erhöhten Schizophrenierisiko durch Cannabis zumindest ausgelöst und ihr Verlauf verschlimmert werden könne.
Besonders in hoher Dosierung kann THC bekanntermaßen eine schizophrenieartige Plus- und Minussymptomatik hervorrufen. In mehreren Studien wird zudem übereinstimmend von dem Zusammenhang zwischen Cannabis und Schizophrenie berichtet, wenn der Cannabiskonsum der Psychose vorausging.
„Wenn in der Jugend stark und regelmäßig Cannabis konsumiert, wenn besonders potentes Cannabis verwendet oder wenn früh begonnen wurde, ist der Zusammenhang zwischen Cannabiskonsum und chronischer Psychose deutlicher zu sehen. Aus diesen Untersuchungen folgt, dass Cannabiskonsum das Schizophrenierisiko etwa verdoppelt. Bei den 8 bis 14 Prozent der Konsumenten, die regelmäßig oder hochpotentes Cannabis zu sich nehmen, ist das Risiko sechsmal so hoch“, so Volkow.
Sie betont, dass es berechtigterweise weiterhin umstritten ist, wie viel Cannabiskonsum nötig ist, um zur Entstehung einer Psychose beizutragen. Ebenfalls unklar sei, in welchem Maß Cannabis bei Patienten, die keine genetische Prädisposition für die Erkrankung aufweisen, eine Psychose herbeiführen kann.
Die entscheidenden Fragen sind noch offen
Um ein klareres Bild von den potenziellen Gefahren des Cannabiskonsums zu erhalten, sollten zunächst einige entscheidende Fragen beantwortet werden.
Zuerst einmal: Wie viel Cannabis ist zu viel? Volkow betont, dass es unklar ist, ob sich die Effekte eines starken Cannabiskonsums eins zu eins auf Personen übertragen lassen, die nur gelegentlich zu der Droge greifen.
Die zweite Frage lautet: In welchem Alter ist der Cannabiskonsum am gefährlichsten? Es sei recht eindeutig, dass Cannabis negative Auswirkungen auf jugendliche Konsumenten habe, schreiben die Autoren um Volkow. Der Konsum könne aber auch ungünstige Folgen für ältere Erwachsene haben, da sich bei ihnen die neuronale Plastizität verändere und es zu einem altersbedingten Rückgang der kognitiven Leistungsfähigkeit komme. In beiden Fällen wirken sich die toxischen Cannabiseffekte verstärkt aus.
„Ärzte können einen ganz entscheidenden Beitrag dazu leisten, cannabisbedingte Gesundheitsprobleme vorzubeugen“, sagt Volkow. „Dazu ist es erforderlich, dass sie junge Menschen auf ihren Cannabiskonsum hin screenen und gegebenenfalls eingreifen, um den weiteren Gebrauch nach Möglichkeit zu verhindern.“
Wenn junge Menschen aufgrund des Cannabiskonsums bereits unter gesundheitlichen Beeinträchtigungen leiden, sollten Ärzte ihre Maßnahmen an die Schwere der Störung und mögliche Begleiterkrankungen wie Ängste oder Depression anpassen.
„Die Wissenschaft hat gezeigt, dass Cannabis keine harmlose Droge ist. Die Morbidität und Mortalität durch legale Drogen ist weitaus höher als durch illegale. Das liegt nicht daran, dass diese Drogen gefährlicher sind als die anderen, sondern daran, dass ihr legaler Status sie leichter zugänglich macht und eine größere Zahl Menschen auf legale Weise mit den Substanzen in Kontakt kommt.“
„Die gegenwärtigen „Normalisierungsbestrebungen“ ignorieren völlig die negativen gesundheitlichen Auswirkungen des Cannabiskonsums. Wahrscheinlich wird dieser Fehler auch unsere Präventionsbemühungen konterkarieren, indem er von den existierenden Gefahren ablenkt und den Konsum unter jungen Menschen fördert, die für die abträglichen Effekte des Cannabiskonsums am empfänglichsten sind“, sagte Volkow.
Beteiligt an psychischen Erkrankungen
In einer Stellungnahme für Medscape Medical News pflichtet Dr. Oliver Howes vom Institute of Psychiatry am King's College London der NIDA-Position zum Cannabisgebrauch bei: „Ich bin ebenfalls der Auffassung, dass es einige offene Fragen zum Cannabiskonsum junger Menschen gibt, vor allem wenn er bereits in der frühen Jugend einsetzt“, sagte er.
„Der frühe Konsum scheint der Faktor zu sein, der das Psychoserisiko besonders stark erhöht, aber er scheint auch insgesamt mit deutlicheren Effekten verknüpft zu sein. Und wir haben die Effekte eines frühzeitigen und langfristigen Cannabiskonsums auf die dopaminergen Systeme des Gehirns, die mit der Motivation in Zusammenhang stehen, bei starken Cannabiskonsumenten oft genug gesehen.“
Howes teilt auch die NIDA-Auffassung, dass noch Vieles über die Langzeitfolgen vor allem des starken Konsums nicht bekannt ist. Er sehe als Arzt oft junge Menschen, die bereits mit 12, 13 oder 14 Jahren zu kiffen begonnen haben und ihn dann als junge Erwachsene wegen psychischer Probleme konsultierten. „Und ja, ich glaube, dass früher Cannabiskonsum an den später auftretenden psychischen Problemen beteiligt ist.“
Dieser Artikel wurde von Dr. Markus Vieten von www.medscape.com übersetzt und adaptiert.
REFERENZEN:
1. Volkow ND, et al: JAMA Psychiatry 2016;73:292-297
Diesen Artikel so zitieren: Cannabis-Legalisierungswelle in den USA: Drogenforscher warnen vor dramatischen Folgen, vor allem für junge Konsumenten - Medscape - 31. Mär 2016.
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