Ärzte haben Vorbehalte gegenüber Adipositas-Patienten – das beeinflusst die Therapieentscheidung erheblich

Ute Eppinger

Interessenkonflikte

30. März 2016

Ist Übergewicht nur die Folge „mangelnder Willensstärke“? Fast 60% der befragten Ärzte einer bundesweiten Studie des Integrierten Forschungs- und Behandlungszentrums (IFB) AdipositasErkrankungen der Universitätsmedizin Leipzig, die in Obesity Surgery erschienen ist, sind zumindest dieser Meinung [1]. Ein Drittel der Befragten findet es deshalb auch „zu einfach“, wenn adipöse Menschen mit Hilfe der Adipositas-Chirurgie abnehmen. Diese Einschätzungen haben Folgen für die Therapie – nur wenige Ärzte empfehlen bei schwerer Adipositas bariatrische Eingriffe.

 
Hausärzte und Internisten sollten frei von Vorurteilen gegenüber Übergewichtigen und Adipösen sein. Franziska Jung
 

Weil die bariatrische Chirurgie eine gute Behandlungsmethode für Patienten mit schwerer Adipositas darstelle, sei es von größter Wichtigkeit, Mediziner zu informieren, Missverständnisse aufzuklären und Vorurteile gegenüber der bariatrischen Chirurgie abzubauen, schreibt Erstautorin Franziska Jung, die am Institut für Sozialmedizin, Arbeitsmedizin und Public Health als Psychologin arbeitet. „Hausärzte und Internisten sollten frei von Vorurteilen gegenüber Übergewichtigen und Adipösen sein, ihre Patienten ausreichend informieren und ihm sinnvolle Ratschläge zur Gewichtsreduktion geben. Die Entscheidung eines Patienten für oder gegen eine spezifische Strategie zum Gewichtsverlust sollte eigenständig und ohne sozialen Druck erfolgen.“

Befragung zu Vorurteilen

Um heraus zu finden, inwieweit Vorbehalte gegenüber adipösen Patienten und Kenntnisse über die bariatrische Chirurgie Empfehlungen für eine Operation und Überweisungen zum Chirurgen beeinflussen, hatten Jung und ihre Kollegen bundesweit 1.236 Ärzte angeschrieben und darum gebeten, einen anonymen Fragebogen auszufüllen. 201 Ärztinnen (92) und Ärzte (109) beteiligten sich, darunter 161 Hausärzte und 40 Internisten. Das durchschnittliche Alter lag bei 53 Jahren.

Jung und ihre Kollegen fragten die Mediziner, wie häufig sie adipösen Patienten eine Operation empfehlen. Des Weiteren wurden folgende Informationen abgefragt:

- persönliches Wissen zu bariatrische Chirurgie
- ob bariatrische Chirurgie als nützlich eingestuft wurde
- die Einschätzung, wie viel Gewicht sich durch eine OP verlieren lasse
- die Haltung gegenüber Adipösen
- die Überzeugung, dass ein Mangel an Willen der Hauptgrund für Übergewicht sei
- die Annahme der Befragten, dass Gewichtverlust durch eine bariatrische Operation „zu leicht“ erreicht werde
- der BMI der Befragten, ihr Alter und Geschlecht.

Vorbehalte gegen Übergewichtige sollte die Kurzform der Fat Phobia Scale (FPS) anzeigen. An verschiedenen Stellen des Fragebogens wurden dazu Fragen zu 2 Frauen – einer übergewichtigen und einer normalgewichtigen – gestellt, denen 14 bestimmte Eigenschaften (wie z.B. träge/fleißig) zugeordnet werden mussten. Je mehr negative Eigenschaften (unattraktiv, geringe Selbstkontrolle, schwach, inaktiv etc.) die Probanden der übergewichtigen Frau zuordneten, desto stärker waren die Vorbehalte gegenüber übergewichtigen Menschen ausgeprägt.

Vorbehalte gegen Adipöse beeinflussen OP-Empfehlung

Die Befragten gaben an, dass sie ihren Patienten manchmal (48%) oder selten (34,3%) einen bariatrischen Eingriff empfehlen. 17,8% überwiesen ihre Patienten zum Chirurgen, 38,4% zu anderen Behandlungen, die einen Gewichtsverlust versprechen. 44% aber überwiesen adipöse Patienten weder an Ernährungsmediziner, noch an Chirurgen. 4% der Befragten gaben an, keinerlei Kenntnisse über die bariatrische Chirurgie zu besitzen, 18% stuften ihre Kenntnisse als gering ein, 38% als mittelmäßig, 33% als gut und 7% als sehr gut.

Eine Mehrheit der Befragten (56%) schätzte bariatrische Eingriffe als nützlich ein. Der Fat-Phobia-Score lag bei 3,4 – was eine leicht negativ eingefärbte Haltung gegenüber Patienten mit Übergewicht oder Adipositas nahe legt. 1 von 3 Befragten stimmte mit der These überein, dass Gewichtsverlust durch eine Operation eine „zu einfache Option“ für die Patienten sei.

Dr. Claudia Luck-Sikorski

Sowohl der Wissensstand zur bariatrischen Chirurgie (Beta-Koeffizient: 0,258; p < 0,001) als auch Vorbehalte gegenüber der Chirurgie (b = 0,129; p = 0,013) beeinflussten die Häufigkeit der OP-Empfehlungen. Hinzu kommt: Die befragten Ärzte, die mit höherer Wahrscheinlichkeit eine negative Haltung zu bariatrischer Chirurgie einnahmen, überwiesen auch seltener zum Chirurgen (b = 0,107; p < 0,05). Die Befragten, die angaben, mehr Kenntnisse über die bariatrische Chirurgie zu besitzen, überwiesen wiederum häufiger (b = 0, 026, p < 0, 05).

„Ein Stück weit hatten wir diese Vorbehalte erwartet“, sagt die Leiterin der Arbeitsgruppe und Mitautorin Dr. Claudia Luck-Sikorski im Gespräch mit Medscape Deutschland. Studien aus 2012 zeigten, dass sowohl in der Allgemeinbevölkerung als auch in den Gesundheitsberufen Vorurteile gegenüber Adipositas-Patienten bestehen. In einer 2013 publizierten Studie hatten die Leipziger Wissenschaftler medizinisches Fachpersonal befragt – mit ähnlichen Ergebnissen.

„Viele Ärzte glauben noch immer, dass Fettleibigkeit kontrollierbar ist, selbstverschuldet und dass die Patienten selbst dafür verantwortlich sind. Folglich kann das Übergewicht leicht durch Diät und Sport reduziert werden, statt durch bariatrische Chirurgie“, bilanziert Jung in ihrer Studie.

Missverhältnis zwischen OP-Indikation und tatsächlichen Eingriffen

„Solche Vorbehalte beeinträchtigen die medizinische Versorgung erheblich, denn sie stehen den Leitlinienempfehlungen zur Adipositas-Therapie komplett entgegen“, betont Luck-Sikorski, die am Integrierten Forschungs- und Behandlungszentrum Adipositas die Nachwuchsgruppe „Stigmatisierung und internalisiertes Stigma bei Adipositas“ leitet.

 
Viele Ärzte glauben noch immer, dass Fettleibigkeit kontrollierbar ist, selbstverschuldet und dass die Patienten selbst dafür verantwortlich sind. Dr. Claudia Luck-Sikorski
 

Gemäß Leitlinien kommt die Adipositas-Operation für Patienten in Frage, die einen BMI von 40 oder mehr haben, und durch Abnehm-Programme nicht genug Gewicht verloren haben. Liegen bei Adipositas-Patienten bereits Diabetes oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen vor, kann eine Magenverkleinerung bereits ab einem BMI von 35 erwogen werden.

Wie Luck-Sikorski berichtet, kommen in die IFB Adipositasambulanz in Leipzig viele Patienten, die über viele Jahre Diäten versucht und diverse Therapien durchlaufen haben, ohne langfristig erfolgreich zu sein. Für sie ist ein Adipositas-Eingriff oftmals die letzte Chance, das Übergewicht sowie die Adipositas-assoziierten Erkrankungen zu lindern.

„In Deutschland leben 1,2 Millionen Adipositas-Patienten mit einem BMI von 40 oder darüber – diese Patienten fielen sofort in die OP-Indikation“, erklärt Luck-Sikorski. Tatsächlich wird aber pro Jahr nur bei 9.000 Patienten eine bariatrische Operation durchgeführt: „Da herrscht ein Riesen-Missverhältnis, auch im internationalen Vergleich hinkt Deutschland hinterher.“ Zum Vergleich: In Schweden wurden 2013 bei einer Bevölkerung von 9,6 Millionen 7.473 bariatrische Operationen durchgeführt, in Österreich (8,47 Millionen Einwohner) 2.354 Eingriffe.

Der Operation müssen auch die Kassen und damit der MDK zustimmen. „Immer wieder einmal wurden bariatrische Operationen als ‚Schönheits-Ops‘ eingestuft, nach dem Motto: ‚Die machen es sich zu einfach und lassen sich schlank operieren‘“, so Luck-Sikorski. Mit der tatsächlichen Situation der Patienten hat das nichts zu tun – aufgrund des verkleinerten Magens und der je nach Operationsmethode auch veränderten Darmpassage müssen die Operierten ihre Ernährung und ihren Lebensstil lebenslang umstellen.

Ärzte fühlen sich mit Adipositas-Patienten allein gelassen

„Wir stellen fest, dass sich viele Ärzte allein gelassen fühlen – die in den Leitlinien geforderte interdisziplinäre, multidisziplinäre Zusammenarbeit bei Adipositas-Patienten funktioniert in der Praxis so nicht, Hausärzte wissen oft nicht wohin mit diesen Patienten“, sagt Luck-Sikorski. Es gebe große Versorgungslücken, zu wenige Ernährungsmediziner, zu wenige auf Adipositas spezialisierte Ambulanzen.

Ob die befragten Ärzte Unterschiede in der Einschätzung machen je nachdem ob der Adipositas-Patient männlich oder weiblich ist, beantwortet die Studie nicht, denn als Beispiele im Fragebogen waren ausschließlich weibliche Patienten. „Insgesamt habe ich schon den Eindruck, dass adipöse Frauen noch negativer wahrgenommen werden als adipöse Männer“, sagt Luck-Sikorski.

 
Die in den Leitlinien geforderte interdisziplinäre, multidisziplinäre Zusammenarbeit bei Adipositas-Patienten funktioniert in der Praxis so nicht. Dr. Claudia Luck-Sikorski
 

Auch soziodemographisch fanden die Forscher keine Effekte: Weder spielte es eine Rolle, ob ein Arzt jünger oder älter war noch, ob der befragte Arzt selbst übergewichtig war. „Aus anderen Studien kennen wir es durchaus, dass Ärzte, die selbst übergewichtig sind, einen milderen Blick auf übergewichtige Patienten haben. Sie können sich besser einfühlen in solche Patienten.“ Allerdings waren in der Studie 57% der Ärzte normalgewichtig, nur 7% litten an Adipositas – gegenüber mehr als 20% in der Allgemeinbevölkerung.

Leitfaden Adipositas-Management speziell für Hausärzte

Mit einem Leitfaden zum Adipositas-Management richten sich die Leipziger Wissenschaftler speziell an niedergelassene Hausarztkollegen und wollen auf die Besonderheiten von Patienten mit Übergewicht oder Adipositas aufmerksam machen. Seit einem knappen Jahr gibt es ihn. „Wir versuchen jetzt, die Reichweite zu vergrößern, es ist aber nicht so einfach, die Kollegen dafür zu begeistern“, schildert Luck-Sikorskis ihre Erfahrungen.

Auch bei Hausarztfortbildungen zeige sich, dass andere Themen – Herzerkrankungen beispielsweise – gut besucht sind, das Interesse an Adipositas hingegen eher verhalten ist. „Dabei haben gerade Hausärzte am meisten mit diesen Patienten zu tun, in jeder Praxis ist jeder zweite Patient übergewichtig ist und jeder vierte hat adipös.“

Bei den Ärzten, die man in den Fortbildungen erreiche „haben wir schon das Gefühl, dass der Leitfaden gut ankommt“. Sie fügt hinzu: „Uns ist es wichtig, dass Hausärzte und Internisten ein Grundwissen über die Adipositas-Therapie bekommen und künftig auf einfache – aber für diese speziellen Patienten alles andere als hilfreiche – Ratschläge verzichten, die da lauten ‚Essen Sie weniger‘, ‚Bewegen Sie sich mehr‘ und stattdessen diese Patienten an Ernährungsmediziner oder Adipositas-Ambulanzen überweisen.“

 

REFERENZEN:

1. Jung FU, et al: Obes Surg. (online) 17. Februar 2016

 

Kommentar

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