Potsdam – Psychische Probleme bequem übers Internet lösen? Wer wegen langer Wartezeiten keinen Therapieplatz findet, weit weg wohnt oder einfach nur Hemmungen vor dem Gang zum Therapeuten hat, könnte ein solches Angebot interessant finden. „In der Tat gibt es bereits vielfältigste psychologische Onlineprogramme, die Menschen mit seelischen Beschwerden Hilfe versprechen“, berichtete Prof. Dr. Manfred E. Beutel, Mainz, auf einer Pressekonferenz anlässlich des Deutschen Kongresses für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie in Potsdam [1].
„Dabei zeigt eine international wachsende Zahl von Studien“, so der Direktor der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Universitätsmedizin Mainz weiter, „dass solche Onlineprogramme gut wirksam sein können und die Teilnehmer bei bestimmten psychischen Störungen deutlich davon profitieren.“ Beispiele für geeignete Indiaktionen seien Depressionen, Angst und Essstörungen sowie posttraumatische Belastungsstörungen. Die Online-Interaktion erfolgt über Texte, Chats und Videos, mit zeitgleichem oder zeitverzögertem Therapeutenkontakt oder auch ganz ohne diesen. Zum Teil ist eine Teilnahme an solchen Programmen auch völlig anonym möglich.
Andere Länder haben mehr Erfahrungen mit Onlineprogrammen
„Das Internet als Medium bietet sehr viele interaktive und gestalterische Möglichkeiten, über die man relativ viele Menschen je nach ihren individuellen Präferenzen sowie zeitlich und örtlich flexibel erreichen kann. Diese Vorteile des Internets lassen sich sinnvoll auch im Rahmen einer psychotherapeutischen Behandlung nutzen“, erläuterte Beutel im Gespräch mit Medscape Deutschland.
Relativ viele Erfahrungen damit gibt es vor allem in Ländern wie Australien, Großbritannien oder in Skandinavien, in denen entweder keine optimale flächendeckende psychotherapeutische Versorgung besteht oder deren Bevölkerung als besonders internet-affin gilt. In Deutschland sind psychologische Onlineprogramme bislang weniger verbreitet als dort und noch kein Teil der Routineversorgung.
Diagnose nicht ohne persönlichen Kontakt
Online-Angeboten ohne jeglichen Kontakt mit einem Therapeuten steht der Mainzer Psychosomatiker und Psychotherapeut skeptisch gegenüber. Zum einen fordert das Berufsrecht in Deutschland auch für telemedizinische bzw. Fern-Behandlungen, dass der ärztliche oder psychologische Therapeut den Patienten unmittelbar behandelt. Das bedeutet, dass zumindest bei der Diagnose und Indikationsstellung ein persönlicher, physischer Kontakt bestehen sollte.
Zum anderen konnten Beutel zufolge mehrere Studien zeigen, dass Onlineprogramme mit therapeutischem Kontakt generell wirksamer sind als reine Online-Selbsthilfe, die der Nutzer ohne therapeutische Unterstützung bearbeitet: „Deshalb sind psychologische Onlineprogramme nicht als Ersatz, sondern vielmehr als Ergänzung zur klassischen Psychotherapie zu verstehen.“ Allenfalls bei leichten seelischen Störungen bzw. im Vorfeld einer Psychotherapie könne ein Online-Selbsthilfeprogramm allein empfohlen werden.
Online-Selbsthilfe versus „Face-to-Face“-Psychotherapie
Auf den Nutzen internetgestützter psychologischer Onlineprogramme weist auch eine 2014 publizierte Metaanalyse aus Schweden hin. Dabei wurden 13 Studien analysiert, in denen zu jeweils einem bestimmten Beschwerdebild wie Angst- oder Panikattacken verhaltenstherapeutisch begleitete Online-Anwendungen mit klassischer „Face-to-Face“-Psychotherapie verglichen worden waren. Es zeigte sich, dass die therapeutisch begleitete Online-Selbsthilfe ähnlich effektiv war wie eine Behandlung mit traditionellen therapeutischen Sitzungen. Auch hier ist allerdings zu vermuten, dass der Therapeutenkontakt maßgeblich zum Erfolg der Intervention beitrug.
Psychologische Onlineprogramme wurden an der Mainzer Universitätsklinik auch als Ergänzung zur stationären Psychotherapie erprobt. „Gute Erfahrungen haben wir zum Beispiel mit dem Programm deprexis® 24 zur Therapieunterstützung bei Depressionen gemacht“, berichtete Beutel. „Darüber hinaus sind Onlineprogramme eine Möglichkeit, nach der Entlassung mit den Patienten in Kontakt zu bleiben und diese nicht zu verlieren.“
Derzeit wird an der Mainzer Klinik geprüft, ob Patienten online besser auf eine stationäre psychosomatische Rehabilitation vorbereitet werden können und inwieweit die zusätzliche Teilnahme an Online-Selbsthilfe den Übergang in das häusliche und berufliche Umfeld nach stationärer Krankenhausbehandlung und Rehabilitation erleichtern kann. Dabei kommen nicht nur verhaltenstherapeutische Methoden zum Einsatz, sondern es wurden auch psychodynamische, also tiefenpsychologisch orientierte Programme zur Online-Nachsorge und -Selbsthilfe entwickelt, deren Wirksamkeit sich Beutel zufolge in klinischen Studien bereits bestätigt habe.
Onlineprogramme müssen noch individueller werden
Allgemein sieht der Psychosomatiker noch erheblichen Forschungsbedarf bei psychologischen Onlineprogrammen: „Diese müssen individueller auf den einzelnen Patienten zugeschnitten werden, wir müssen besser verstehen, wie sie wirken und wir brauchen klarere Gütekriterien.“
Auch die Psychologin Eva Schweitzer-Köhn, Vorstandsmitglied der Psychotherapeutenkammer Berlin, sieht psychotherapeutische Online-Hilfen durchaus positiv. Einen sinnvollen Einsatz sieht sie unter anderem in der Prävention, etwa bei durch Burnout gefährdete pflegende Angehörige. „Ebenso können sie eingesetzt werden, um eine persönliche Psychotherapie zu ergänzen oder um Patienten zu erreichen, die sonst keine Praxis aufsuchen würden oder können“, so die Psychotherapeutin im Gespräch mit Medscape Deutschland. Das betreffe zum Beispiel Menschen in Kriegsgebieten, die unter posttraumatischen Belastungsstörungen leiden.
Positive Erfahrungen in der Nachsorge gebe es etwa mit Patienten-Chatgruppen, vor allem, wenn bei diesen ein Psychotherapeut im Chatroom anwesend ist. „Bei allen diesen internet-basierten psychotherapeutischen Anwendungen“, so Schweitzer-Köhn, „muss ein ausreichender Datenschutz gewährleistet sein, bei dem die Kommunikation nach anerkannten Standards verschlüsselt wird.“ Nicht weniger wichtig sei es, vor dem Einsatz elektronischer Medien in der Psychotherapie mit den Patienten zu besprechen, an wen sie sich in Notfällen und Krisen wenden können.
Kein Ersatz für fehlende Psychotherapeutenplätze
Zunehmend bieten auch gesetzliche Krankenkassen ihren Versicherten Hilfe bei psychischen Problemen via Internet an und übernehmen in diesen Fällen die Kosten für entsprechende Programme. „Ohne vorherige fachgerechte Diagnostik birgt dies allerdings die Gefahr, dass eine notwendige psychotherapeutische oder psychiatrische Behandlung verzögert wird oder überhaupt nicht stattfindet“, kritisierte Schweitzer-Köhn.
Weil Online-Interventionen meist auf spezifische psychische Störungen ausgerichtet seien, könnten so auch eventuelle Komorbiditäten übersehen werden. „Onlineprogramme für Einsparungen seitens der Kostenträger oder als Ersatz für fehlende Psychotherapieplätze zu nutzen ist jedenfalls der falsche Weg.“
REFERENZEN:
1. Deutscher Kongress für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, 16. bis 19. März 2016, Potsdam
Diesen Artikel so zitieren: Online-Psychotherapie: Wirksam, aber kein Ersatz für persönlichen Therapeutenkontakt - Medscape - 24. Mär 2016.
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