Brustkrebs: Noch ein Jahr nach der Diagnose leidet jede zweite Frau an posttraumatischen Symptomen

Dr. Ingrid Horn

Interessenkonflikte

17. März 2016

Die Diagnose Brustkrebs ist für Frauen oftmals ein Schock, aber ist sie auch ein traumatisches Ereignis? Die seit 2013 gültige Version des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-V) weist die Feststellung einer lebensbedrohlichen Krankheit nicht mehr als ein Ereignis aus, das eine traumatische Erfahrung darstellen kann. Neue Befunde wecken berechtigte Zweifel an dieser Einschätzung.

Varinka Voigt

Das Vollbild einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTSD) sei zwar selten, doch die überwiegende Mehrheit der an Brustkrebs erkrankten Frauen entwickle infolge der Diagnose eindeutige posttraumatische Symptome, schreiben die Psychologin Varinka Voigt von der Klinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe am Klinikum der LMU München und ihre Mitautoren in der Online-Ausgabe von Psycho-Oncology [1]. Bei mehr als der Hälfte der Patientinnen seien diese Symptome sogar noch 1 Jahr später nachweisbar.

In der Studie COGNICARES (Cognition in Breast Cancer Patients: The Impact of Cancer-Related Stress) untersuchten die Münchner Wissenschaftler in erster Linie, wie sich die durch die Diagnose eines Mammakarzinoms entstehende Belastung auf die kognitive Funktion der Patientinnen auswirkte. Die Diagnose Brustkrebs als Stressor war ein Teilaspekt dieser Untersuchung.

Insgesamt wurden 150 Patientinnen, bei denen ein Mammakarzinom im Stadium 0 bis IIIc diagnostiziert worden war, analysiert.

Dr. Kerstin Hermelink

Ärzte haben Trauma-Symptome wenig im Blick

„Es ist bemerkenswert, wie lange die hohe seelische Belastung der Frauen anhält“, betont COGNICARES-Studienleiterin Dr. Kerstin Hermelink gegenüber Medscape Deutschland. Obwohl die Psychoonkologie in Deutschland mittlerweile gut etabliert sei, bestehe die Gefahr, dass die behandelnden Ärzte die psychische Belastung von Krebspatientinnen in vielen Fällen falsch einschätzten, ist Hermelink überzeugt. „Es werden eher Ängste und Symptome einer Depression erwartet. Weniger bekannt ist sicherlich, dass Symptome einer Posttraumatischen Belastungsstörung auftreten können, wie es bei der großen Mehrzahl der Brustkrebs-Patientinnen der Fall ist“, erläutert sie. Folglich dürften posttraumatische Symptome den Ärzten weniger auffallen und die Belastung von Patientinnen, die keine depressive Symptomatik, aber PTSD-Symptome zeigen, eher übersehen werden.

Als die Psychologen 2011 mit der prospektiven kontrollierten Längsschnittstudie begannen, galt noch die Vorläuferversion des diagnostischen Klassifikationssystems, DMS-IV. Demzufolge erhob das Team um Kerstin Hermelink und Varinka Voigt, eine Doktorandin der Münchner Psychoonkologin, die Befunde auf der Grundlage strukturierter klinischer Interviews entsprechend dieser Version des Psychiatrie-Handbuches. Die Untersuchungen der Patientinnen fanden zu 3 verschiedenen Zeitpunkten statt: zwischen Diagnose und Therapiebeginn (T1), nach der Chemotherapie oder Operation (T2) und ein Jahr nach der Ersterhebung T1 (T3). Die Ergebnisse wurden mit denen einer Kontrollgruppe von Frauen ohne Brustkrebs verglichen.

Wie sich herausstellte, litten 82,5% der Brustkrebs-Patientinnen vor Therapiebeginn an posttraumatischen Belastungssymptomen. Diese äußerten sich beispielsweise als ständiges, zwanghaftes Denken an die Erkrankung, emotionale Dumpfheit, hohe Reizbarkeit bis hin zu Wutausbrüchen und übermäßige Schreckhaftigkeit. Im Verlauf des Beobachtungszeitraums von einem Jahr nahm der Anteil der Patientinnen mit PTSD-Symptomen zwar ab, blieb aber mit 57,3% auf einem signifikant hohen Niveau. Die Art der Therapie – ob Chemotherapie oder Operation – hatte keinen Einfluss auf die Entwicklung der Symptomatik.

Zwanghaftes Wiedererleben, Schlafstörungen, Hypervigilanz

Die Autoren präsentieren eine detaillierte Analyse der PTSD-Symptomatik anhand der DSM-IV-Kriterien. Nach der Diagnose Brustkrebs litten die betroffenen Frauen vor allem unter zwanghaftem Wiedererleben dieses Ereignisses und ließen oftmals physiologische Reaktionen auf Schlüsselreize erkennen, die mit der Diagnose in Verbindung gebracht werden. Außerdem stellten sich bei gut einem Drittel der Patientinnen Schlaf- und Konzentrationsstörungen ein; Hypervigilanz war in gleich hohem Maß zu beobachten.

 
Es ist bemerkenswert, wie lange die hohe seelische Belastung der Frauen anhält. Dr. Kerstin Hermelink
 

Viele der Frauen verloren auch das Interesse an Aktivitäten, die sie früher für wichtig erachtet hatten, und beklagten das Empfinden einer verkürzten Lebensperspektive, obwohl das Mammakarzinom früh entdeckt worden war und gute Heilungsaussichten bestanden. Manche verdrängten Gedanken und Gefühle an dieses einschneidende Ereignis und mieden Gespräche über die Diagnose.

Die Zahl der beobachteten Symptome verminderte sich allerdings im Laufe des Beobachtungsjahres deutlich – von durchschnittlich 3,1 auf 1,7. Der einzige Einflussfaktor, der hier statistisch gesehen eine Rolle spielte, war der Bildungsgrad der Patientinnen. „Ein hoher Bildungsgrad bewahrt zwar nicht vor der Entwicklung posttraumatischer Symptome, aber besonders Frauen mit einem Universitätsabschluss sind offenbar in der Lage, die Belastung besser zu bewältigen“, schreiben Voigt und ihre Kollegen.

Kritik an der aktuellen DSM-Klassifikation

 
Hier besteht die Gefahr, dass diese Patientinnen nicht die spezifische PTSD-Therapie erhalten, die sie brauchen. Dr. Kerstin Hermelink
 

Eine voll ausgebildete, akute oder anhaltende Belastungsstörung haben die Psychologen nur selten entdeckt. Sie entwickelte sich bei 6 Frauen (3,6%) vor Beginn der Behandlung und war nach einem Jahr nur noch bei 3 Patientinnen (2%) diagnostizierbar. „Nach der aktuellen DSM-V hätten wir hier eine Anpassungsstörung diagnostizieren müssen, obwohl alle Symptome in der für eine Trauma-Diagnose nötigen Schwere und Dauer vorlagen“, gibt Hermelink zu bedenken. Laut DSM-V gelten medizinische Vorfälle nämlich nur noch dann als traumatische Ereignisse, wenn es sich um unvorhersehbare Katastrophen handelt, etwa um einen anaphylaktischen Schock oder das Aufwachen des Patienten während einer Operation.

Die Münchner Psychoonkologin hält es für falsch, dass das DSM-V das Ereignis Krebsdiagnose nicht als Trauma zulässt. „Hier besteht die Gefahr, dass diese Patientinnen nicht die spezifische PTSD-Therapie erhalten, die sie brauchen“, befürchtet sie. Das entscheidende Kriterium, das der Diagnose Krebs fehlt, ist die unmittelbare körperliche Gefahr. Dennoch könne sie als psychisch vernichtender Schlag wahrgenommen werden, berichtet Hermelink aufgrund ihrer eigenen beruflichen Erfahrung. Das Selbstbild als gesunder Mensch sei schlagartig dahin, das gute „normale“ Leben scheinbar zu Ende – die Patientin nehme sich als Schwerkranke war, die aus ihrem bisherigen Leben herauskatapultiert wird. Insofern sei für viele Patientinnen das Ereignis der Diagnose selbst ein gewaltiger Schrecken und damit ein traumatisches Erlebnis, ist sie überzeugt.

 
Unsere Befunde bestätigen, dass die posttraumatische Belastung bei Patientinnen mit Brustkrebs in erster Linie von der Krebsdiagnose an sich herrührt. Dr. Kerstin Hermelink
 

Diese Ansicht wird in COGNICARES auch durch den Vergleich mit anderen traumatischen Ereignissen wie sexueller Missbrauch, körperliche Gewalt, Unfall oder Naturkatastrophe in gewisser Weise bestätigt. „Von 71 Patientinnen mit Brustkrebs, die bereits andere traumatische Erlebnisse hinter sich hatten, bewerteten 28 (39,4%) die Diagnose Brustkrebs als die wesentlich größere Belastung“, berichten Voigt und ihre Mitautoren.

Studiendesign erlaubt hohe Aussagekraft

„COGNICARES ist eine der ganz wenigen Längsschnittstudien, die es zu traumatischen Störungen nach der Diagnose Brustkrebs überhaupt gibt“, betont Hermelink. Die Studie wurde von der Deutschen Krebshilfe gefördert und umfasste ursprünglich 166 Patientinnen aus verschiedenen bayerischen Brustzentren. Kriterien für die Aufnahme waren: Brustkrebs-Erkrankung ohne Metastasen, Alter zwischen 18 und 65 Jahren und die sichere Beherrschung der deutschen Sprache. Zudem durften die Patientinnen in ihrer Krankengeschichte weder eine Psychose noch neurologische Vorerkrankungen aufweisen. Weitere Ausschlusskriterien waren eine systemische Krebsbehandlung sowie der Missbrauch von Drogen und Arzneimitteln.

Den Brustkrebs-Patientinnen gegenübergestellt wurde als Kontrolle eine Gruppe von 60 Frauen ohne Brustkrebs. Darin sehen die Autoren den besonderen Wert der Studie, denn die beiden Gruppen stimmten im Hinblick auf andere Merkmale weitgehend überein. Die Belastung durch andere Stressoren war in beiden Gruppen sehr niedrig und unterschied sich nicht. Auch der Anteil an Frauen, bei denen bereits zuvor einmal eine andere PTSD diagnostiziert worden war, war in beiden Gruppen mit 6% bzw. 5% nahezu gleich. In beiden Gruppen waren rund 42% der Studienteilnehmerinnen bereits zuvor schon einmal Stressoren mit Trauma-Potential ausgesetzt gewesen. Hinzu kommt, dass die Studie nur wenige Abgänge zu verzeichnen hatte.

„Unsere Befunde bestätigen, dass die posttraumatische Belastung bei Patientinnen mit Brustkrebs in erster Linie von der Krebsdiagnose an sich herrührt“, sagt Hermelink. Lediglich im Hinblick auf Chemotherapie und Mastektomie als Einflussfaktoren schränken die Autoren diese Aussage ein wenig ein. Hier könnte die Anzahl der untersuchten Patientinnen zu klein gewesen sein, um Einflüsse der Behandlung offenkundig werden zu lassen. Zudem sei zu berücksichtigen, dass mehr als die Hälfte der Patientinnen psychologisch betreut worden sein, um die psychische Belastung zu lindern.

 

REFERENZEN:

1. Voigt V, et al: Psycho-Oncology, Wiley (online) 22. Februar 2016

 

Kommentar

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