Viele medizinische Dissertationen seien zu kurz und von zweifelhafter Qualität. Womöglich würden sie nicht einmal gelesen – der Doktortitel werde aber gleichwohl verliehen. So lautet die Kritik von Prof. Dr. Gerhard Dannemann, Jurist an der Berliner Humboldt-Universität und Mitarbeiter im VroniPlag-Wiki, der Internetplattform, die Dissertationen auf Plagiate prüft.
Medizinische Doktorarbeiten seien hier besonders auffällig, sagt er. Bei rund 100 medizinischen Promotionsschriften hat VroniPlag zum Teil einen Anteil von Plagiaten festgestellt, der deutlich über die Hälfte der ganzen Arbeit hinaus geht. In einem Fall in Münster wurde die Promotion sogar komplett abgekupfert. Dannemann spricht von einer Subkultur der Schlamperei. Mehr noch: Die lasche Praxis schlage auch auf Versorgung und Forschung durch.
Erst kürzlich wurden der Bundesverteidigungsministerin Dr. med. Ursula von der Leyen „Fehler aber kein Fehlverhalten" bei der Promotion nachgewiesen, die sie zur Doktorin der Medizin machte. So formuliert es jedenfalls Prof. Dr. Christopher Baum, Präsident der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH). Der Kern der Arbeit sei von der Leyens eigene wissenschaftliche Leistung, erklärt die Kommission für Gute Wissenschaftliche Praxis (GWP) der MHH. Für die Hochschule war dies Grund genug, den Doktortitel nicht abzuerkennen [1].
Plagiat vom Plagiat vom Plagiat
Dennoch: Für Dannemann steht es schlecht mit den medizinischen Doktorarbeiten. Warum werden gerade hier so viele Inhalte nicht selbst erforscht, sondern einfach abgeschrieben? „Das hat aus meiner Sicht mehrere Gründe", sagte Dannemann im Gespräch mit Medscape Deutschland. So würde die Arbeiten oft schon während des Studiums angefangen und entstünden in aller Regel im Rahmen von Gruppenarbeiten.
Wohin das führen kann, zeigt die VroniPlag-Analyse einer Arbeitsgruppe an der Charité in Berlin. Hier stellte VroniPlag fest, dass nicht nur 1-mal abgeschrieben wurde, sondern Plagiat vom Plagiat vom Plagiat vom Plagiat vom Plagiat entstand. Zwischen 3 und 56 Textstellen wurden jeweils ungekennzeichnet übernommen. Das 100%-Plagiat aus Münster hatte ebenfalls kein Original zum Vorbild, sondern eine Arbeit, die ihrerseits zu 90% abgeschrieben worden war. Dass oft die Karriere des Gruppenleiters davon abhänge, wie viele Doktoranden er durchschleuse, verschärfe das Problem.
„Oft werden die Regeln des wissenschaftlichen Arbeitens nicht verinnerlicht", sagt Dannemann. „Viele promovierende Gruppenmitglieder argumentieren: ‚Das sind doch unsere Ergebnisse! Die können wir doch teilen!‘" Dessen ungeachtet versichern sie in ihren Arbeiten, diese ohne fremde Hilfe geschrieben zu haben. Hier habe sich eine selbst gestrickte Praxis eingeschlichen: „Die Regeln sind zwar bekannt, aber man nutzt eben Abkürzungen und ganz eigene Konventionen. So hat sich bei den medizinischen Promotionen eine eigene Subkultur entwickelt."
Schauen die Prüfer weg?
Zu dieser Subkultur gehört es offenbar, dass fertige Doktorarbeiten von den Prüfenden entweder gar nicht oder nicht sorgfältig gelesen werden, schon gar nicht, wenn einer der Prüfer zugleich der Gruppenleiter ist, so Dannemann. „Es ist kein Geheimnis, dass medizinische Promotionen als ziemlich dünn gelten, als bessere Seminararbeit. Neu war mir aber, dass dieselben Maßstäbe, die für Seminararbeiten des 5. Semesters gelten, bei den medizinischen Dissertationen oft ignoriert werden. Das hat mich überrascht."
Abgesehen davon, dass jene Subkultur den Ruf der Medizin als seriöse Wissenschaft schädigt, richtet sie auch tatsächlichen Schaden an. Sie kostet Geld. Schon seit Jahren dürfen deutsche promovierte Mediziner beim Europäischen Forschungsrat keine Forschungsgelder mehr beantragen, „weil der deutsche medizinische Doktor nicht dem internationalen Ph.D. entspricht", wie Mareike Thillmann von der deutschen Kontaktstelle des Forschungsrates erklärt.
Der Ph.D. (Doctor of Philosophy) ist der internationale Doktor-Titel für fast alle Fächer. Dannemann: „Die deutschen Mediziner wurden wegen des niedrigen Niveaus ihrer Arbeiten ausgeschlossen." Um Geld aus dem EU-Topf zu erhalten, müssen sie deshalb zusätzlich nachweisen, dass sie wissenschaftlich arbeiten, z. B. durch eine Professur.
Mehr noch: Die Plagiate trüben auch den Blick auf die Versorgungslage. „Denn die abgeschriebenen Arbeiten verfälschen Metastudien", erklärt Dannemann. „Manche Metastudien, etwa zur Ernährung, erfassen Hunderte von Arbeiten, auch Promotionen. Je mehr Plagiate dabei sind, umso mehr werden natürlich auch die Ergebnisse verfälscht."
„An der Charité hat man unterdessen Gegenmaßnahmen ergriffen. „Jeder Doktorand und Habilitand muss eine Pflichtveranstaltung über gute wissenschaftliche Praxis besuchen", berichtet Claudia Mathan von der Geschäftsstelle Gute Wissenschaftliche Praxis der Charité. Zudem prüft die Charité jede 50. Promotion auf Plagiate und will die Promotionstandems abschaffen.
Ombudsleute können von den Doktoranden bei Problemen angesprochen werden; eine ständige Untersuchungskommission prüft die inkriminierten Arbeiten. „Außerdem soll die Publikationspromotion, bei der die Arbeiten in wissenschaftlichen Zeitschriften veröffentlicht werden, die Regel werden", sagt Mathan."
MD statt Dr. med.
Bereits 2004 hat der Wissenschaftsrat angesichts der Probleme bei den medizinischen Doktorarbeiten vorgeschlagen, es wie in den USA oder Österreich zu halten. Dort erhalten die Mediziner mit Abschluss ihres Studiums das Kürzel „MD" (Medical Doctor) als Namenzusatz und können sich als Doktor anreden lassen. Dannemann: „Da wird dem Volksmund Rechnung getragen und die Wissenschaft nicht weiter belastet."
Auch international fällt die deutsche Praxis auf. Ein Editorial der Zeitschrift Nature rief im November 2015 energisch zur Ordnung und propagierte einen Vorschlag des Deutschen Wissenschaftsrates von 2004, der aber nie umgesetzt wurde: Studierende der Medizin sollten ihren medizinischen Grad und Doktortitel automatisch bekommen, ohne dafür eine Forschungsarbeit abliefern zu müssen. Studierende mit echtem Interesse an medizinischer Wissenschaft könnten die Möglichkeit erhalten, eine Auszeit zu nehmen, um einen Ph.D. nach den Standards anderer Fächer zu machen.
Aber die Studierenden sollten nicht mit „Quick-and-dirty-Arbeiten" ihre Promotion bestreiten müssen. Das erhöhe nur den Druck auf die ohnedies stark belasteten jungen Mediziner. „Wie viele medizinische Doktorarbeiten müssen auf Vroniplag-Wiki bloß gestellt werden ... bevor akzeptiert wird, dass das System bankrott ist?", fragt Nature und schließt: „Von der Leyen könnte einfach eine Schülerin ihrer Zeit gewesen sein – einer Zeit, die sich nun ändern muss."
REFERENZEN:
Diesen Artikel so zitieren: Ursula von der Leyen nur „ein Kind ihrer Zeit“? Dissertationen in der Medizin oft von fraglicher Qualität - Medscape - 16. Mär 2016.
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