Methadon: Ein verkanntes Analgetikum – vielleicht sogar mit Anti-Tumor-Wirkung?

Gerda Kneifel

Interessenkonflikte

15. März 2016

Frankfurt – „Methadon hat einen schlechten Ruf, doch in der Palliativmedizin nutze ich es seit Jahren, weil es das einzige Opioid ist, das sehr einfach zu handhaben ist, in wässriger Lösung binnen 5 Minuten wirkt, sehr wenige Nebenwirkungen aufweist und bis zuletzt funktioniert, ohne dass intravenöse Umstellungen oder andere Maßnahmen erforderlich sind“, sagte Dr. Hans-Jörg Hilscher beim Deutschen Schmerz- und Palliativtag in Frankfurt am Main [1]. Der Palliativmediziner leitet seit 18 Jahren das Hospiz Mutter Teresa in Iserlohn und sämtliche Patienten dort erhalten nach seinen Angaben Methadon als Schmerzmittel. Über die Jahre hat er Erfahrungen mit ungefähr 5.000 Patienten sammeln können.

 
Methadon hat einen schlechten Ruf, doch in der Palliativmedizin nutze ich es seit Jahren. Dr. Hans-Jörg Hilscher
 

Bei seinem durchaus provokant formulierten Kongress-Vortrag berichtete Hilscher jedoch noch viel Erstaunlicheres: Die Methadon-Therapie habe – z.B. in Kombination mit Chemotherapeutika über eine Wirkungsverstärkung – auch günstige Effekte auf die Tumorprogredienz.

Die richtige Dosis machts

Methadon ist ein Racemat aus den beiden Enantiomeren Levomethadon und Dextromethadon, die unterschiedliche Wirkprinzipien haben. Hilscher gibt das Gemisch – eine in fast allen Apotheken erhältliche Rezeptur – in einer Dosierung ab 20 mg, der 3-fachen Äquivalenzdosis von Morphin, und dann ansteigend bis auf das 30-Fache der Morphin-Äquivalenzdosis. Als Vorlage für die Dosierung dient ihm eine Arbeit australischer Palliativmediziner aus dem Jahr 2000.

„Die Substanz hat eine ungeheure therapeutische Breite“, begeisterte sich der Palliativmediziner. „Ein Patient erhielt einmal von seiner Frau anstelle von 2-mal 20 Tropfen 2-mal 20 ml Methadon am Tag. Als sie es gemerkt haben, brachten sie den Patienten ins Krankenhaus. Der meinte nach 18 Stunden Schlaf nur, so gut habe er noch nie geschlafen.“ Unerwünschte Nebenwirkungen aufgrund von Überdosierungen sind entsprechend selten.

Aus diesem Grund ist auch „das von vielen Experten, unter anderem dem Vorsitzenden der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin, empfohlene Aufdosieren aus meiner Sicht nicht notwendig“, betonte Hilscher entgegen den allgemeingültigen Lehrmeinungen. „Sie können gleich die ganze für Sie sinnvoll erscheinende Dosis geben. Denn wenn Sie im Stundenabstand auftitrieren, haben Sie den Wirkstoff ohnehin komplett in der 22-Stunden-Wirkdauer drin. Damit ersparen Sie dem Patienten viele Tage Schmerzen.“

Methadon ist besser als sein Ruf

 
Die Substanz hat eine ungeheure therapeutische Breite. Dr. Hans-Jörg Hilscher
 

Neben den genannten Vorteilen hat Methadon zudem eine geringe obstipierende Wirkung, da es bereits im oberen Gastrointestinaltrakt resorbiert wird. Auch die emetische Wirkung ist entsprechend gering und nicht zuletzt mindert es die Wachheit weniger als beispielsweise Morphin. Die Wirkdauer in der Analgesie ist mit 12 bis 22 Stunden recht lang.

Auch Warnungen vor Interaktionen etwa mit Ciprofloxazin und Fluconazol, die in der Literatur beschrieben werden, hält Hilscher für unangebracht. „Es wird ein Hype um die Wirkung, insbesondere die Ausscheidung von Methadon gemacht. Ciprofloxazin und Fluconazol blockieren die Enzyme Cyp3A4 und Cyp2D6, die Methadon verstoffwechseln. Bei einer Blockierung dieser Enzyme wird Methadon jedoch zu 100% vom Körper ausgeschieden – und zwar kompetitiv über die Leber oder über die Niere. Interaktionen mit Substanzen wie Ciprofloxazin und Fluconazol sind daher gering.“

Die kompetitive Ausscheidung über Niere oder Leber habe weiterhin den Vorteil, dass bei Lebermetastasen oder Niereninsuffizienz keine Dosisänderungen notwendig seien, ergänzt Hilscher. Die Substanz werde entweder verstoffwechselt über die Leber oder unverstoffwechselt über die Niere ausgeschieden.

In der Literatur beschrieben sind auch Warnungen vor Therapien mit Methadon bei alkalisiertem Urin. „Eine Alkalisierung setzt aber einen nicht-katabolischen Zustand voraus. Man findet das bei jungen Vegetariern, aber ein Kranker mit alkalischem Urin ist eine Seltenheit“, gibt der Hospizleiter zu bedenken. Alkalischer Urin blockiere zudem nur die Ausscheidung von unverstoffwechseltem Methadon. Kompensatorisch steige im Falle eines Falles die fäkale Ausscheidung an. „Die einzigen wesentlichen Interaktionen, die ich je gesehen habe, sind die mit Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmern, denn Levomethadon hat auch eine serotoninerge Wirkung.“

Indikationen und Kontraindikationen

Im Gegensatz zu vielen Opioiden zeigt Methadon keinen Wirkverlust durch Herunterregulierung der µ-Rezeptoren. Die WHO empfiehlt daher bei einer Toleranzentwicklung gegenüber Opioiden den Wechsel zu Methadon, weil es die Herunterregulierung wieder aufhebt. Im Übrigen ist die Substanz auch bei Morphinunverträglichkeit und neuropathischen Schmerzen indiziert, sowie bei Schmerzen, die auf andere Opiate nicht oder nicht mehr reagieren.

 
Die kardiogene Toxizität tritt … in den Dosisbereichen, die wir in der Analgesie nutzen, nicht auf. Dr. Hans-Jörg Hilscher
 

„Schmerzen bei Pankreaskrebs etwa sind mit einem reinen µ-Agonisten nicht in den Griff zu bekommen. Methadon wirkt zwar über Levomethadon auch als µ-Agonist, kann aber über Dextromethadon auch an NMDA-Rezeptoren binden. Mit Methadon bekommen Sie die Schmerzen meistens in den Griff, und das ohne ein Antiepileptikum geben zu müssen“, berichtet Hilscher von seinen Erfahrungen.

Dennoch wirkt Methadon auch toxisch. „Die kardiogene Toxizität tritt allerdings in den Dosisbereichen, die wir in der Analgesie nutzen, nicht auf. Toxisch wird es bei Dosierungen, die in der Substitution bei Drogenkranken verwendet werden“, betonte Hilscher. Aufgrund dieser gefährlichen Nebenwirkung müsse die Substitution eigentlich mit Levomethadon gemacht werden, um die Kardiotoxizität in Grenzen zu halten.

Die Kosten für Methadon sind denkbar niedrig: 100 ml Methadon für die Behandlung moderater Schmerzen kosten 12 Euro und reichen für eine 4- bis 6-wöchige Behandlung aus.

Bei zwei Drittel der Patienten verschwinden die Tumoren

Noch sehr neu ist die Beobachtung, dass unter Methadon Tumoren zurückgehen können. Der Palliativmediziner berichtet: „Die Menschen in meinem Hospiz leben dramatisch viel länger als in anderen Hospizen und ich habe überlegt, woran das liegen könnte.“

 
Die Menschen in meinem Hospiz leben dramatisch viel länger als in anderen Hospizen. Dr. Hans-Jörg Hilscher
 

Um dieser Beobachtung auf den Grund zu gehen, kombinierte er zunächst Methadon mit Methotrexat in antirheumatischer Dosis bei Patienten mit malignen Ergüssen. Das Ergebnis: „Pleuraergüsse und Aszites verschwanden unter dieser Medikation. Ich habe seit mehr als zehn Jahren keine Pleuraergüsse und Aszites mehr bei meinen Patienten punktieren müssen. Das ist eine große Erleichterung für die Menschen, so dass sie deutlich länger durchhalten.“

Um diese Ergebnisse wissenschaftlich zu untermauern, ging der Palliativmediziner auf die Suche nach einem Wissenschaftler, der sich mit Methadon auskennt, und fand Dr. Claudia Friesen, die am Institut für Rechtsmedizin des Universitätsklinikums Ulm das Molekularbiologische Forschungslabor leitet. Seit 2007 arbeiten Hilscher und Friesen nun an diesem Thema. Resultat der Zusammenarbeit ist unter anderem die Erkenntnis, dass die kurativen Effekte einer Methadontherapie auf der Unterbindung des Escape-Phänomens basieren. Dabei handelt es sich um einen essentiellen Abwehrmechanismus der Tumorzelle gegen Chemotherapeutika.

Methadon wirkt dabei auch, wenn sich die Tumorzelle nicht in der Teilungsphase befindet. So erfasst das Racemat im Gegensatz zu Zytostatika auch Tumorstammzellen.

„Methadon induziert eine physiologische Apoptose, das Wachstum des Tumors wird gehemmt, aber es geht nicht in Richtung Heilung. Wenn wir aber Methadon mit Zytostatika kombinieren, sehen wir ganz tolle Effekte“, begeistert sich Hilscher. „Bei etwa zwei Drittel der Patienten gehen die Tumoren zurück oder verschwinden sogar. Bei dem anderen Drittel steigen zumindest Überlebenszeit und Lebensqualität.“

 
Bei etwa zwei Drittel der Patienten gehen die Tumoren zurück oder verschwinden sogar. Dr. Hans-Jörg Hilscher
 

Auch Kliniken erkennen das Potential

Patienten mit Glioblastomen seien bislang nach rund 2 Jahren gestorben. Unter Methadontherapie leben die Menschen nun 4 bis 5 Jahre, sterben dann im Zweifel jedoch an radiogener Demenz. „Es ist schon bitter zu sehen, dass die Patienten keine Tumoren mehr haben, aber dann an den Nebenwirkungen der Radiotherapie sterben.“

Die Therapie funktioniert nach den Erfahrungen Hilschers bei allen soliden Tumoren und Glioblastomen. „Je früher Sie dabei mit Methadon beginnen, desto besser. Für eine kurative Intention sollten sie auf jeden Fall frühzeitig mit der Chemotherapie beginnen.“ Um auch die Tumorstammzellen zu erfassen, sollten Patienten, bei denen kein Tumor mehr nachweisbar ist, trotzdem mit Methadon weiterbehandelt werden. „Die minimale Dosis beträgt 2-mal 20 bis 30 Tropfen am Tag über zwei Jahre. Aber auch mit weniger erzielen Sie positive Effekte.“

Immer mehr Kliniken übernähmen inzwischen die Krebstherapie mit Methadon. So behandelt man in der Berliner Charité laut Hilscher mittlerweile alle Glioblastom-Patienten mit Methadon, in München erhalten Patienten mit Karzinomen des Gastrointestinaltraktes das Gemisch. „Und wenn bei der Indikation chronischer Schmerz steht, übernehmen die Krankenkassen die Kosten mit Kusshand, denn günstiger geht es einfach nicht“, kommentierte Hilscher.

 

REFERENZEN:

1. Deutscher Schmerz- und Palliativtag 2016, 2. bis 5. März 2016, Frankfurt am Main

 

Kommentar

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