
Prof. Dr. Theo Boer
Seit 2007 sterben immer mehr Holländer durch Tötung auf Verlangen. Derzeit sind es jährlich fast 6.000 Menschen. Der Theologe und Ethiker Prof. Dr. Theo Boer, Universitätsdozent für Ethik an der Protestantischen Theologischen Universität Groningen, war Mitglied der Prüfungskommission, die zu überprüfen hatte, ob dem Begehren nach Sterbehilfe zu recht stattgegeben wurde. Im Jahr 2014 trat er aus der Kommission aus – auch aus Gewissensgründen. Auch kritische Ärzte fühlen sich in Holland unter Druck gesetzt, berichtet Prof. Dr. Boer im Gespräch mit Medscape Deutschland.
Medscape Deutschland: Sie sind im September 2014 aus der Kontrollkommission ausgetreten, die in den Niederlanden prüft, ob die Fälle von Sterbehilfe und assistiertem Suizid den Gesetzen entsprochen haben. Warum sind Sie überhaupt eingetreten?
Prof. Dr. Theo Boer: Ich wurde 2005 zur Teilnahme eingeladen, obwohl ich immer schon eine kritische Haltung hatte und gegenüber der aktiven Sterbehilfe skeptisch war. Ich war also nie ein Pionier der aktiven Sterbehilfe, wie bisweilen behauptet wird. Die ehemalige Justizministerin Winnie Sorgdrager sagte, sie wollte mich auch deshalb in der Kommission haben. Sie behauptete, die Kommissionen sollten ihren eigenen Widerspruch organisieren. Das heißt: Aktive Sterbehilfe muss immer mit gewissem kritischem Distanz begutachtet werden. Das hat mir Mut gemacht. Es zeigte, dass die Kommission glaubwürdig war.
Medscape Deutschland: Was geschah, wenn die Kommission feststellte, dass einer Bitte zur Sterbehilfe zu Unrecht stattgegeben wurde?
Prof. Dr. Theo Boer: Das war in durchschnittlich 10 Fällen pro Jahr der Fall. So war zum Beispiel die Medikation nicht korrekt gewesen, die zum Koma führte, das der Tötung voraus ging. Oder der vorgeschriebene zweite Arzt, der das Begehren prüfte, war nicht unabhängig genug. Bei solchen Beanstandungen wurde die Staatsanwaltschaft benachrichtigt.
Medscape Deutschland: Und dann?
Prof. Dr. Theo Boer: Nun, es ist nie zu einer Verfolgung gekommen. In allen Fällen genügte es, dass der betroffene Arzt versicherte, dass ihm der Fehler nicht noch einmal passiere. Und damit war das Buch geschlossen. Wenn die Kommissionen gegen einen Fall von Sterbehilfe nichts einzuwenden haben, ist ihr Urteil definitiv: weder die Staatsanwaltschaft noch ein Richter kann das Buch wieder öffnen. Die Entscheidung kann also nicht noch einmal geprüft werden. Das ist eine Systemschwäche, die ich sehr bedauere. Es wäre auch gut, wenn die Kommission nicht nur zwischen "sorgfältig" und "nicht sorgfältig" entscheiden müsste, sondern auch sagen könnte: "Wir wissen es nicht, wir überlassen es dem Gerichtshof."
Medscape Deutschland: Ist also das niederländische System kein lernendes System?
Prof. Dr. Theo Boer: Doch, es lernt. Es wird einerseits liberaler. Fälle von Demenz oder psychischen Erkrankungen galten anfangs nicht als zulässiger Grund für einen Suizid. Heute ist das anders, auch psychische Leiden werden als Grund für eine Tötung anerkannt. Ebenso wurde auch die Dosis des Koma-Mittels erhöht, und die Kriterien für die Unabhängigkeit des zweiten Arztes sind strikter geworden.
Medscape Deutschland: Warum sind Sie schließlich aus der Kommission ausgetreten?
Prof. Dr. Theo Boer: Ich war fast 10 Jahre dabei und hatte mehr als 4.000 Fälle beurteilt. Außerdem bekam ich eine Professur angeboten, hatte also weniger Zeit. Sicher hatte ich zunehmend auch Gewissensprobleme, und es war eine Erleichterung, zu gehen. Ich sehe bei der niederländischen Sterbehilfepraxis hauptsächlich drei Probleme. Erstens nehmen die Fälle stetig zu, seit 2007 jährlich um 15%. Das heißt, dass wir heute dreimal so viele Fälle haben wie zu Beginn im Jahr 2007: von weniger als 2.000 auf fast 6.000, bei gleichbleibenden Sterbezahlen. Zweitens werden die Gründe für die Tötung auf Verlangen immer mehr ausgedehnt. Anfangs wurden nur terminale Erkrankungen akzeptiert, bei denen die Tötung auf Verlangen das Leben nur um Tage oder Wochen verkürzte. Aber heute gelten auch Demenz oder Blindheit als akzeptable Gründe.
Gelegentlich wird die so genannte "Duo-Sterbehilfe" praktiziert. Das heißt, wenn ein schwer kranker Lebenspartner durch die Tötung auf Verlangen stirbt, kann der andere Partner ihm folgen, wenn er selber krank ist. Andere Fälle in denen ein Patient noch Monate oder Jahre leben könnte, sind Patienten etwa mit Blindheit, Autismus oder Tinnitus. Und drittens wird die Tötung auf Verlangen in Holland immer selbstverständlicher. Die Autonomie der Betroffenen rückt immer mehr in den Vordergrund. Die aktive Sterbehilfe hat sich somit zu einem Patientenrecht entwickelt, und dabei in der öffentlichen Meinung auch immer häufiger zu einer Pflicht des Arztes.
Medscape Deutschland: Wie beurteilt die Ärzteschaft in Holland diese Entwicklungen?
Prof. Dr. Theo Boer: Kritische Ärzte werden oftmals als "Verweigerungs-Ärzte" gesehen, die den Patienten etwas vorenthalten, worauf sie ein Recht hätten. Nach meiner Schätzung sind nur 10% der Ärzte kategorisch gegen die Tötung auf Verlangen, 50% halten die Tötung auf Verlangen unter bestimmten Umständen für richtig, aber haben es wegen der vielen guten Alternativen in der Praxis kaum mit Sterbehilfe zu tun, und etwa 40% betrachten die aktive Sterbehilfe auch als eine echte Behandlungsalternative, meistens dann, wenn der Patient unter einer terminalen Krankheit leidet. Die Mehrheit der Ärzte hat aber ernsthafte Probleme, wenn die betroffenen Patienten noch Jahre oder Monate leben könnten. Nach der jüngsten Umfrage des holländischen Ärzteblattes beschweren sich Ärzte über den wachsenden Druck der Patienten und ihrer Familien, aktive Sterbehilfe zu machen. Die Ärzte wollen nicht weiter über die gegenwärtige Praxis hinausgehen.
Medscape Deutschland: Bietet das Sozialsystem in den Niederlanden genug Alternativen zur aktiven Sterbehilfe?
Prof. Dr. Theo Boer: Das ist die Frage nach dem Huhn und dem Ei: Wo immer mehr aktive Sterbehilfe verfügbar wird, wird zugleich die Suche nach guten Alternativen unterminiert. Es gibt in den Niederlanden sehr gute Palliativmedizin. Nicht wenige Menschen wünschen sich trotzdem den "königlichen Weg" der aktiven Sterbehilfe: einen schönen Tod nach einer guten Palliativmedizin. Die Verfügbarkeit des aktiven Sterbens ist besonders für psychisch Kranke bedrückend. Erst heute erhielt ich einen Brief einer psychisch kranken Frau. Sie schreibt, sie fühle sich beleidigt davon, dass die aktive Sterbehilfe angeboten wird, während sie tagtäglich gegen Suizidgedanken kämpft.
Medscape Deutschland: Wäre ein Regelung wie in Deutschland eine Alternative für Holland?
Prof. Dr. Theo Boer: Die massive Rolle des Arztes bei der aktiven Sterbehilfe in Holland halte ich für veraltet und nicht länger vertretbar. Ich halte den assistierten Suizid im Nachhinein für die bessere Alternative. Allerdings gibt es auch Schwächen. Terminale Krebspatienten zum Beispiel können oft nicht mehr selber das bereitgestellte tödliche Mittel zu sich nehmen. Sie wären gezwungen, sich das Leben zu nehmen, so lange sie noch trinken können.
Medscape Deutschland: Es bräuchte also doch eine Regelung für das Töten auf Verlangen?
Prof. Dr. Theo Boer: So kategorisch würde ich es nicht sagen.
Medscape Deutschland: Es gibt ja die Möglichkeit, einen Graubereich zu schaffen, in dem das eigentlich Verbotene im Einzelfall dennoch geschieht.
Prof. Dr. Theo Boer: Tatsächlich hat es über die Jahrhunderte schon immer Grauzonen gegeben. Da hat man den Menschen, die sehr gelitten haben, geholfen. In Holland wollte man diese Grauzone transparent machen. Vielleicht ist es aber mit einer solchen Grauzone gar nicht so schlimm. Denn wenn man die Grauzone abschafft, besteht die Gefahr, dass die aktive Sterbehilfe zu einer Gewohnheit wird und zu einem Patientenrecht. Bliebe sie in einer Grauzone, bliebe sie im Prinzip eine Ausnahme.
Medscape Deutschland: Kann man die holländische Gesetzgebung zurückdrehen?
Prof. Dr. Theo Boer: Nein, ich halte die holländische Gesetzgebung für nicht reformierbar. Ein so schwer erkämpftes Gesetz, wie das in Holland, lässt sich nicht in ein paar Jahrzehnten ändern. Aber Gesetze sind ja steingewordene Moral. Wenn sich also die Moral verändert, möglicherweise im Hinblick auf die massive Rolle des Arztes bei der Sterbehilfe, wird sich in Zukunft vielleicht ein anderes Gesetz ergeben. Vielleicht sollte auch der Sterbewillige eine größere Verantwortung tragen.
Diesen Artikel so zitieren: Sterbehilfe in Holland: „Die Tötung auf Verlangen wird immer selbstverständlicher“ - Medscape - 15. Mär 2016.
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