Vorbeugung von Neutropenie oder Erbrechen bei Krebskranken – die Leitlinien-Adhärenz lässt noch zu wünschen übrig

Dr. Susanne Heinzl

Interessenkonflikte

8. März 2016

Berlin – Für die Supportivtherapie bei onkologischen Patienten gibt es Leitlinien – doch werden sie in der täglichen Praxis zu wenig umgesetzt. Prof. Dr. Hartmut Link, Klinik für Innere Medizin, Westpfalzklinikum Kaiserslautern, demonstrierte dies beim Deutschen Krebskongress anhand von 2 Erhebungen zur Leitlinien-Adhärenz [1]. Geprüft worden waren die Leitlinien zur Prophylaxe der Neutropenie sowie von Übelkeit und Erbrechen.

G-CSF zur Neutropenieprophylaxe

Beispiel febrile Neutropenie: Internationale evidenzbasierte Leitlinien empfehlen die Gabe des Wachstumsfaktors G-CSF zur Chemotherapie, wenn die Patienten ein hohes oder intermediäres Risiko haben, diese Komplikation zu entwickeln. Link und seine Kollegen hatten bereits beim ASCO-Kongress 2013 Ergebnisse einer ersten Erhebung vorgestellt, deren Ergebnisse ernüchternd waren (wie Medscape Deutschland berichtete). Die Ergebnisse wurden vor kurzem auch in Supportive Care in Cancer publiziert.

Mit einer repräsentativen Stichprobe haben Link und seine Kollegen nun deutschlandweit erneut die aktuelle Praxis der Neutropenieprophylaxe in Kliniken (n = 109) und im niedergelassenen Bereich (n = 83) untersucht. Es ging um Patienten mit Mamma- und Lungenkarzinomen im Zeitraum Oktober 2014 bis September 2015. Die 1.374 Patienten hatten im Erhebungszeitraum 2 bis 3 Zyklen einer Chemotherapie mit hohem oder intermediärem Risiko für eine febrile Neutropenie (FN) erhalten. „Die Patientendokumentation erfolgte retrospektiv nach Patientenakte. Parallel dazu wurden die behandelnden Ärzte zu ihrem Kompetenzprofil, ihrer Beurteilung der Leitlinienqualität und ihrem Therapieverhalten bei der G-CSF-Prophylaxe befragt“, erläuterte Link das Vorgehen.

Bei Patienten mit Lungenkarzinom und hohem FN-Risiko wurden auch jetzt noch erst 47,8% der Zyklen leitliniengerecht behandelt – in der ersten Untersuchung im Jahr 2012 waren es sogar nur 15,4% gewesen. Bei Chemotherapie mit intermediärem FN-Risiko wurden aktuell 44,3% der Zyklen leitliniengerecht behandelt, während es 2012 38,8% waren. „Die Leitlinien-Adhärenz ist beim Lungenkarzinom im Vergleich zur NP-1-Studie zwar signifikant besser geworden, aber noch nicht befriedigend“, lautet Links Fazit.

Beim Mammakarzinom mit hohem FN-Risiko erfolgte die Prophylaxe bei 85,1% der Zyklen leitliniengerecht, 2012 war dies bei 85,6% der Fall gewesen. Eine Verbesserung zeigte sich hier bei den Patienten mit intermediärem FN-Risiko. Hier stieg die Zahl der Zyklen mit korrekter Prophylaxe von 49,3 auf 57,8%.

 
Die Leitlinien-Adhärenz ist beim Lungenkarzinom im Vergleich zur NP-1-Studie zwar signifikant besser geworden, aber noch nicht befriedigend. Prof. Dr. Hartmut Link
 

Weitere Analysen ergaben, dass zertifizierte Zentren und Comprehensive Care Centers in der Umsetzung der Leitlinien nur bei Mammakarzinom und bei intermediärem FN-Risiko besser waren, nicht jedoch bei Lungenkarzinom und hohem FN-Risiko. Bei Patienten mit Lungenkarzinomen hielten sich Hämatologen/Onkologen besser an die Leitlinien als Pneumologen, während beim Mammakarzinom keine Unterschiede zwischen Hämatologen/Onkologen und Gynäkologen gesehen wurden.

Leitlinienadhärenz in der Antiemese-Prophylaxe

Link und seine Kollegen führten eine weitere Erhebung zur Umsetzung der aktuellen MASCC/ESMO- und ASCO-Leitlinien zur antiemetischen Prophylaxe bei hoch emetogener Chemotherapie durch. Die Leitlinien empfehlen die Gabe von 5-HT3-Antagonisten plus Glukokortikoid plus Aprepitant oder Fosaprepitant. Zur Prophylaxe von verzögerter Übelkeit und Erbrechen sollen Glukokortikoid plus Aprepitant eingesetzt werden.

Mit einem ähnlichen Design wie bei der G-CSF-Prophylaxe prüften Link und seine Kollegen hier anhand einer repräsentativen Stichprobe deutschlandweit die aktuelle Praxis bei Patienten mit Mamma-, Lungen- oder Magen/Ösophaguskarzinom sowie Kopf-Hals-Tumoren. Die 1.940 Patienten waren zwischen September 2013 und August 2014 in Kliniken (n = 122) oder niedergelassenen Zentren (n = 78) behandelt worden.

Das Ergebnis: Bei Patienten mit Mammakarzinom wurden 60,9% der Zyklen in der akuten Phase und 46,5% in der verzögerten Phase leitliniengerecht behandelt; beim Lungenkarzinom waren dies für die akute Phase 74,7%, für die verzögerte Phase 33,2%, bei Magen-/Ösophaguskarzinom 49,0% bzw. 14,8% und bei Kopf-Hals-Tumoren 66,8% bzw. 25,9%. Die Wahrnehmung der Behandler war allerding eine andere: Hier gaben 81,1% an, regelmäßig eine antiemetische Supportivtherapie einzusetzen. 94,4% waren sogar der Meinung, dass die Dreifachprophylaxe in ihrer Abteilung bzw. Praxis regelmäßig umgesetzt wurde. Die Ergebnisse zeigen jedoch nach Aussage von Link deutlich, dass es noch Optimierungspotenzial gibt.

Strategien zur Umsetzung von Leitlinien

Als Hindernisse bei der Implementierung von Leitlinien nannte Prof. Dr. Ina B. Kopp, Leiterin des AWMF-Instituts für Medizinisches Wissensmanagement, Marburg, beispielsweise schlechte Zugänglichkeit der Leitlinien für die Ärzte und ein hoher Zeitaufwand, diese durchzulesen, mangelnde Qualität oder Praktikabilität der Empfehlung, ferner Festhalten des Anwenders an Erfahrung (kognitive Dissonanz), Ablehnung von „Kochbuchmedizin“ (Reaktanz) sowie die unzureichende Erwartung, selbst etwas ändern zu können (self-efficacy). Darüber können einer Umsetzung fehlende Ressourcen, Organisationsdefizite oder auch Patientenwünsche im Wege stehen.

Für eine dauerhafte Verhaltensänderung sind nach Aussage von Kopp Besuche von Peers vor Ort, manuelle oder elektronische Erinnerungshilfen und interaktive Fortbildung in Qualitätszirkeln hilfreich. Am besten seien kombinierte Strategien, aber „Frontalvorträge kann man vergessen“. Auch die schriftliche Verbreitung von Leitlinien habe kaum einen Effekt.

Wichtig sei ferner, dass das „Produkt“ stimme. Von der Leitlinie solle eine Lang- und Kurzversion, eventuell auch eine Powerpoint-Version zur Verfügung stehen. Eine gute Leitlinie verfüge zusätzlich über Patientenleitlinien, Algorithmen für die Kitteltasche sowie Apps und elektronische Hilfen.

 

REFERENZEN:

1. 32. Deutscher Krebskongress, 24. bis 27. Februar 2016, Berlin

 

Kommentar

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