Zwei Drittel der klinischen Studien sind 2 Jahre nach ihrem Abschluss noch immer nicht publiziert – das zeigt eine Querschnittsanalyse von mehr als 4.000 Studien, die kürzlich im British Medical Journal erschienen ist [1]. „Es ist unglaublich und nicht nachvollziehbar, dass wir 2016 noch immer eine solch hohe Rate an nicht-veröffentlichten Studien haben. Das ist inakzeptabel – nicht nur aus ethisch-moralischer Sicht, sondern auch aus finanziellen Gründen: Teure Forschung, die nicht publiziert wird, ist Forschung, die nicht gemacht wurde“, sagt dazu Prof. Dr. Gert Antes, Direktor des Deutschen Cochrane Zentrums am Universitätsklinikum Freiburg.

Prof. Dr. Gert Antes
Dr. Ruijun Chen vom Department of Medicine der University of California in San Francisco, USA, und sein Team analysierten 4.347 Studien aus 51 akademischen Zentren, die auf ClinicalTrials.gov registriert und zwischen Oktober 2007 und September 2010 beendet worden waren. 23% der Studien schlossen mehr als 100 Patienten ein, 28% waren doppelt verblindet und bei 50% handelte es sich um Phase-2- bis Phase-4-Studien.
34 Prozent der Studienergebnisse nicht veröffentlicht
Insgesamt wurden die Ergebnisse von 66% der Studien bekannt gegeben, entweder auf ClinicalTrials.gov oder durch die Veröffentlichung in einer Fachzeitschrift. Bei 35,9% der Studien geschah dies innerhalb von 24 Monaten nach Studienende. Der Wille zur Bekanntmachung der Ergebnisse schwankte zwischen den verschiedenen akademischen Zentren beträchtlich – von 16,2% bis 55,3%.
Die Publikationsrate in medizinischen Fachzeitschriften lag bei 56,5% – innerhalb von 24 Monaten waren es gerade mal 28,6% der Studien. Auch hier schwankten die Raten zwischen den akademischen Zentren beträchtlich – von 10,8% bis hin zu 40,3%.
„Angesichts des ethischen Auftrags und der ausdrücklichen Werte und Ziele der akademischen Institutionen ist das eine schlechte Leistung und eine auffällige Variation in der Verbreitung von klinischen Testresultaten unter den führenden akademischen medizinischen Zentren“, konstatiert Studienleiter Chen.
Und nicht nur die Mitteilungsfreudigkeit hinsichtlich der Studienergebnisse der in ClinicalTrials.gov registrierten Studien lässt zu wünschen übrig, sondern auch die Registrierung von Beobachtungsstudien, wie eine Untersuchung im Journal of Clinical Epidemiology zeigt.
„Die Schuld liegt nicht nur – wie gerne betont wird – bei den Arzneimittelherstellern, sondern auch im akademischen Bereich, bei den Forschungsinstituten und dem Gesetzgeber, die alle nicht ihren Teil dazu beitragen, diesen Zustand zu beenden“, betont Antes gegenüber Medscape Deutschland. Er gibt außerdem zu bedenken, dass selbst die veröffentlichte Hälfte der Studien nur eingeschränkt nutzbar sei, da sie zum großen Teil als Artikel in lizenzpflichtigen Zeitschriften erscheine, die nur an wenigen Stellen im Medizinsystem zugänglich seien. Wer die entsprechenden Beiträge dann finde, könne sie nur für mindestens 30 Euro pro Stück lesen.
„Es gibt keine Entschuldigung für die Tatsache, dass Forscher Ressourcen nutzen und Versuche an Menschen tätigen, deren Zeit in Anspruch nehmen und sie möglicherweise Risiken aussetzen und es dann nicht einmal schaffen, über die Ergebnisse zu berichten. Die Gründe kann ich schlicht nicht nachvollziehen“, sagt der korrespondierende Autor Prof. Dr. Harlan M. Krumholz von der Yale University gegenüber Medscape Medical News .
Krumholz hat kein Verständnis für die Versäumnisse beim Teilen von Daten. Er betrachtet dies sogar als unmoralisch: „Es ist nicht schwierig, Studienresultate zu veröffentlichen. Das nimmt nur eine Stunde Zeit in Anspruch“, sagte er. Zudem setze eine Veröffentlichung im nationalen Studienregister eine spätere Publikation in einer wissenschaftlichen Fachzeitschrift nicht aufs Spiel, so Krumholz. „Manche Studien sind klein, doch man muss sich fragen: Wenn die Resultate nicht wichtig genug sind, um sie zu veröffentlichen, war dann die Studie überhaupt wichtig genug, sie durchzuführen? Sie hätten besser erst gar keine Studie durchgeführt, wenn Sie nicht zeitnah Resultate liefern können.“
Arzneimittel-Nebenwirkungen: Einer von drei älteren Patienten muss in die Klinik
Doch nicht publizierte Studienergebnisse sind nicht nur ethisch fragwürdig und eine Verschwendung von Forschungsgeldern: Sie führten auch zu einer systematischen Fehlinformation von Ärzten und Patienten – und damit zu falschen Therapieentscheidungen, erinnert Antes.
„Es gibt einen systematischen Transparenzmangel in der Arzneimittelinformation für Ärzte: Der Nutzen von Medikamenten wird gröblich aufgebauscht und über die Nebenwirkungen in Studien wird zu wenig berichtet“, bringt es Dr. Aseem Malhotra, Kardiologe beim National Health Service, gegenüber dem Independent auf den Punkt. Diese verzerrten Informationen, kritisiert Malhotra, verursachten eine „Epidemie falsch informierter Ärzte“.
Malhotra verweist auf das FDA-Register zu Medikamenten-Nebenwirkungen. Für 2014 sind dort 123.000 Todesfälle in den USA dokumentiert, die auf Nebenwirkungen von Medikamenten zurückgehen und 800.000 Fälle von ernsthaften Folgen für die Patienten, einschließlich Klinikaufnahmen oder Behinderungen. Die Zahl der Nebenwirkungen von verschriebenen Arzneimitteln habe sich in den vergangenen 10 Jahren verdreifacht, so Malhotra.
In Großbritannien seien insbesondere Ältere dem Risiko arzneimittelbedingter Nebenwirkungen ausgesetzt, so Malhotra. Bei über 75-Jährigen – besonders dann, wenn sie mehr als ein Medikament erhalten – können diese z.B. Schwindel hervorrufen, die Sturzgefahr erhöhen und Hüftfrakturen verursachen. „Die Zahl der über 75-Jährigen, die aufgrund von Arzneimittel-Nebenwirkungen in die Klinik eingewiesen werden müssen, liegt bei Einem von Dreien“, betont Malhotra. Ein Viertel dieser Patienten wiederum sterbe in der Folge, betont er.
Malhotra ist einer aus einer ganzen Reihe führender Ärzte, darunter auch Sir Richard Thompson, der frühere Arzt der Queen, die sich dafür stark machen, dass das Public Accounts Committee, ein Überwachungsgremium des britischen Parlaments, die Effektivität und Sicherheit von Arzneimitteln unabhängig überprüft. „Institutionen wie Universitäten, medizinische Fachzeitschriften und Ärzte arbeiten bewusst oder unbewusst mit der medizinischen Industrie zusammen, um finanziellen Gewinn zu erzielen“, kritisiert Malhotra.
„Wir brauchen eine kulturelle Veränderung in Richtung Nicht-Verschreibung – und vollständigen Zugang zu den Rohdaten klinischer Studien für eine unabhängige Prüfung. Das wird die von der Pharmaindustrie finanzierte Forschung darin bestärken, auf einem höheren ethischen Level betrieben zu werden“, meint er. Er fügt hinzu: „Ich persönlich betrachte bis zum Beweis des Gegenteils alle von der Industrie finanziell unterstützten Studien erst einmal als Marketing“.
Deutsches Studienregister verhindert das Verschwinden von Studien
In Deutschland ermöglicht seit 2008 das Deutsche Register Klinischer Studien (DRKS) Informationen zu laufenden und abgeschlossenen klinischen Studien zu suchen oder eigene Studien über die Registrierung anderen zugänglich zu machen. Das DRKS – aufgebaut am Institut für medizinische Biometrie und medizinische Informatik (IMBI) des Universitätsklinikums Freiburg – ist ein öffentliches, kostenloses nationales Register, das Mitglied im WHO-Netzwerk ist und die ICMJE-Standards erfüllt.
Inzwischen sind dort auf freiwilliger Basis 4.392 Studien registriert. 65% der registrierten Studien sind interventionell, 35% nicht-interventionell, für 1% liegt kein Eintrag vor. 48% sind Beobachtungsstudien, 7% epidemiologische Studien und 45% fallen unter `Sonstige´. 49% der registrierten Studien sind Therapiestudien. Unter den DRKS-Studien haben Arzneimittelstudien mit 29% den größten Anteil, gefolgt von `Andere´ (26%), Studien zu Medizinprodukten (13%), Verhalten (5%), Prozeduren (5%) und chirurgischen Verfahren (4%).
„Die Bereitschaft zur Registrierung nimmt zu“, sagt Antes. „Anfangs verlief sie etwas schleppend, man musste die Projektleiter der Studien erst an den Gedanken gewöhnen, ihre Studien zu registrieren. Das hat sich geändert.“ Bei den Urologen zum Beispiel sei die Registrierung kontrollierter Studien im DRKS ein erklärtes Ziel. Dass aber die Registrierung von Studien im DRKS über das AMNOG nicht verpflichtend eingeführt worden sei, bezeichnet Antes als großes Versäumnis.
Wie stark das 2-sprachige DRKS genutzt wird, lässt sich nur schwer sagen: „Das wissen wir nicht, da die Nutzer sich nicht ausweisen müssen. Es ist ja gerade Sinn der Sache, dass jeder barrierefrei an alle Information heran kommt“, erklärt Antes. Und fügt hinzu: „Das DRKS ist das mit Abstand preisgünstigste Mittel, das Verschwinden von Studien zu reduzieren – oder sogar ganz zu verhindern, wenn die vollständige Registrierung erreicht wird. Damit ist es ein Eckpfeiler der Studienkultur in Deutschland. Allerdings ist die Förderung des Registers gegenwärtig nur bis 2016 gesichert.“
REFERENZEN:
1. Chen R, et al: BMJ (online) 17. Februar 2016
Diesen Artikel so zitieren: Gefährliche Geheimniskrämerei: Zwei Drittel der klinischen Studien werden nicht veröffentlicht - Medscape - 3. Mär 2016.
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