Umstrittene Bakterienkur: Wie riskant ist es, Säuglinge nach Sectio mit dem mütterlichen Scheidensekret einzureiben?

Anke Brodmerkel

Interessenkonflikte

3. März 2016

Der Trend kommt, wie so häufig, aus den USA. Geburtsmediziner wenden dort nach einer Kaiserschnitt-Entbindung offenbar zunehmend ein Verfahren namens Vaginal Seeding an. Dabei werden die frisch entbundenen Babys mit dem Scheidensekret ihrer Mutter eingerieben – in der Hoffnung, das Immunsystem der Neugeborenen auf diese Weise zu stärken und so dem Entstehen von Allergien, Asthma oder Typ-1-Diabetes vorzubeugen.

In einem Editorial des British Medical Journal (BMJ) warnt jetzt jedoch ein Team um Dr. Aubrey Cunnington vom Imperial College London vor dem Vaginal Seeding: Man setze die Kinder unnötig der Gefahr von Infektionen aus, die durch Scheidenbakterien der Mütter hervorgerufen werden könnten, schreiben der Experte für kindliche Infektionskrankheiten und seine Kollegen [1]. Um ein gutes Immunsystem aufbauen zu können, sei es für die Babys viel wichtiger, gestillt zu werden und Antibiotika nur in wirklich dringenden Fällen zu erhalten.

Trotz möglicher Risiken interessieren sich auch hierzulande immer mehr Schwangere, die per Kaiserschnitt entbinden werden, für die ungewöhnliche Bakterienkur. „Auf etwa jedem zweiten Geburtsvorbereitungsabend sprechen mich Eltern auf das Vaginal Seeding an“, sagt Prof. Dr. Dr. Frank Louwen, Leiter des Geburtshilfe-Teams am Universitätsklinikum Frankfurt am Main und Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG) im Interview mit Medscape Deutschland.

Kaiserschnitt-Babys haben ein anderes Mikrobiom als vaginal geborene

 
Auf etwa jedem zweiten Geburtsvorbereitungsabend sprechen mich Eltern auf das Vaginal Seeding an. Prof. Dr. Dr. Frank Louwen
 

Die Idee hinter der Methode ist ebenso schlicht wie einleuchtend. „Schon länger ist bekannt, dass Kinder, die per Kaiserschnitt zur Welt kommen, ein um etwa 30 bis 50 Prozent erhöhtes Risiko für Allergien, Asthma, Typ-1-Diabetes und andere Autoimmun-Erkrankungen haben“, sagt Louwen. „Und es gilt zumindest als wahrscheinlich, dass das Entstehen dieser Krankheiten auf ein verändertes Mikrobiom der Säuglinge zurückzuführen ist.“

Tatsächlich haben Forscher bereits festgestellt, dass die Zusammensetzung der Darmbakterien bei Kindern, die per Sectio zur Welt gekommen sind, eine andere ist als die bei Kindern, die vaginal geboren wurden. Die Unterschiede sind naheliegend: Während natürlich geborene Kinder als erstes mit den mütterlichen Scheidenbakterien konfrontiert werden, sind es bei Kaiserschnitt-Babys in der Regel Hautkeime – die im Übrigen nicht nur von der Mutter, sondern auch vom Klinikpersonal stammen.

Bislang nur eine Pilotstudie zum Vaginal Seeding

Ebenso naheliegend war dann die Idee, auf die unter anderem Prof. Dr. Maria Dominguez-Bello von der New York University School of Medicine gekommen ist: Anfang Februar berichtete die Mikrobiologin in Nature Medicine von einer Pilotstudie, bei der sie 4 Kaiserschnitt-Babys dem Vaginal Seeding unterzogen hatte [2]. Dazu legte sie den Müttern etwa eine Stunde vor der Entbindung eine mit einer sterilen Salzlösung getränkte Mullbinde in die Scheide. Mit dem so gesammelten Vaginalsekret rieb sie direkt nach der Sectio die Haut und den Mund der Babys ein.

30 Tage nach der Geburt verglich das Team um Dominguez-Bello das Mikrobiom der so behandelten Kinder mit dem von je 7 Babys, die entweder vaginal oder ebenfalls per Sectio zur Welt gekommen waren, aber keine Bakterienkur erhalten hatten. Tatsächlich entdeckten die Forscher auf der Haut, im Mund und im Darm der behandelten Kinder Scheidenbakterien, unter anderem der Gattungen Lactobacillus und Bacteroides. Ihr Mikrobiom ähnelte damit mehr dem der natürlich geborenen Kinder als dem der Kaiserschnitt-Babys.

Dominguez-Bello bereitet derzeit eine Follow-Up-Studie mit 75 Neugeborenen vor, die ein Jahr lang nachbeobachtet werden sollen. Um fundierte Aussagen über die Auswirkungen des Vaginal Seedings auf die Gesundheit der Kinder zu machen, sei jedoch eine Studie mit mindestens 1.500 Probanden und einer Dauer von 3 bis 5 Jahren erforderlich, wird die Forscherin in einem Nature-Bericht zitiert.

Kritiker befürchten Infektionen mit B-Streptokokken und anderen Keimen

Bis dahin sieht der britische Mediziner Cunnington allen Grund zu erhöhter Vorsicht: „Wir haben unser Klinikpersonal dazu angehalten, kein Vaginal Seeding zu praktizieren, da wir glauben, dass das geringe Risiko für Schäden ohne den Nachweis eines Nutzens nicht gerechtfertigt ist“, schreiben er und seine Kollegen. Cunnington befürchtet insbesondere, dass man Kaiserschnitt-Babys ansonsten unnötig der Gefahr einer Infektion mit B-Streptokokken, Herpes-Viren, Chlamydien und Gonokokken aussetzen würde.

 
Wir haben unser Klinikpersonal dazu angehalten, kein Vaginal Seeding zu praktizieren, da wir glauben, dass das geringe Risiko für Schäden ohne den Nachweis eines Nutzens nicht gerechtfertigt ist. Dr. Aubrey Cunnington und Kollegen
 

„Dieses Risiko ist in Großbritannien allerdings höher als bei uns in Deutschland“, sagt der DGGG-Experte Louwen. Denn hierzulande werden schwangere Frauen in Rahmen der Vorsorge in aller Regel auf häufig vorkommende Scheidenkeime getestet. „Zumindest bieten die meisten Frauenärzte das den werdenden Müttern routinemäßig an.“ In Großbritannien hingegen gehören solche Tests bislang noch nicht zum Standard.

Deutsche Studie mit 120 Neugeborenen geplant

Um Nutzen und Risiken des Vaginal Seedings weiter zu erforschen, plant Louwen derzeit eine placebokontrollierte, randomisierte und doppelblinde Studie, die Mitte des Jahres beginnen soll. Je 60 Babys sollen dabei nach der Geburt entweder mit dem mütterlichen Scheidensekret oder mit einer keimfreien Salzlösung eingerieben werden.

„Im Anschluss wollen wir die Entwicklung des kindlichen Mikrobioms weiterverfolgen, auch in Abhängigkeit davon, ob die Säuglinge gestillt werden oder nicht“, sagt Louwen. Insgesamt wollen der Mediziner und sein Team ihre Probanden 6 Jahre lang nachuntersuchen und dabei auch erfassen, welche Krankheiten sie möglicherweise entwickeln. Von einer Anwendung des Vaginal Seedings außerhalb klinischer Studien rät auch Louwen derzeit noch ab.

Was aber tun mit Müttern, die diese einfache Methode in jedem Fall, zur Not auch eigenhändig praktizieren wollen? Unter diesen Umständen solle man die Autonomie der Frauen respektieren, schreibt das Team um Cunnington. Es sei allerdings wichtig sicherzustellen, dass die Mütter über die möglichen Risiken des Verfahrens gut informiert seien. Zugleich fordern die Mediziner ihre Kollegen zu erhöhter Vorsicht auf: Man müsse sich darüber im Klaren sein, dass Vaginal Seeding zunehmend populär werde und bei einer Infektion von Neugeborenen das Verfahren als möglichen Auslöser im Hinterkopf haben.

 

REFERENZEN:

1. Cunnington AJ, et al: BMJ 2016;352

2. Dominguez-Bello MG, et al: Nat Med (online) 1. Februar 2016

 

Kommentar

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