Berlin – „Krebsmedizin heute: präventiv, personalisiert, präzise, partizipativ“, so war der Deutsche Krebskongress (DKK) 2016 überschrieben [1]. Und tatsächlich, für einige Patienten gibt es sie bereits, die präzise und personalisierte Krebsmedizin: Im Rahmen des auf dem Kongress mehrfach präsentierten INFORM-Projekts werden bei Kindern mit Krebsrezidiven mittels Genomsequenzierung die individuellen Treibermutationen ermittelt, um die Suche nach passenden zielgerichteten Therapien zu erleichtern.

Prof. Dr. Angelika Eggert
„In der seit Anfang 2015 laufenden ersten Phase des INFORM-Projekts, einer Machbarkeits-Registerstudie, untersuchen wir bei Kindern mit Krebsrezidiven das gesamte Krebsgenom einschließlich Epigenom sowie das vollständige Genom der gesunden somatischen Zellen als Kontrolle“, erklärte die Präsidentin des Deutschen Krebskongresses 2016 und Direktorin der Kinderklinik der Charité, Berlin, Prof. Dr. Angelika Eggert, im Gespräch mit Medscape Deutschland. Ziel sei die individuell maßgeschneiderte Behandlung mit einer passenden Kombination aus mehreren zielgerichteten Therapien für jedes der aufgenommenen Kinder.
Pilotphase abgeschlossen
Mit den Erkenntnissen aus dem INFORM-Projekt (INdividualized Therapy For Relapsed Malignancies in Childhood; Medscape Deutschland berichtete) soll eine therapeutische Lücke geschlossen werden, denn: „Jährlich erleiden etwa 400 Kinder und Jugendliche – jeder fünfte der jungen Krebspatienten – einen Rückfall. In den meisten Fällen ist dann die Prognose sehr ungünstig“, erläutert Eggert. Sie ist gemeinsam mit Wissenschaftlern des Deutschen Krebsforschungszentrums (DKFZ) in Heidelberg Koordinatorin des Projekts, das vom DKFZ, vom Deutschen Konsortium für Translationale Krebsforschung (DKTK), von der Deutschen Krebshilfe, der Deutschen Kinderkrebsstiftung (DKKS) und der Stiftung „Ein Herz für Kinder“ unterstützt wird. INFORM ist eingebettet in das europäische „Precision Medicine“-Programm der Kinderonkologen.
In einer Pilotphase vor dem eigentlichen Start des INFORM-Projekts, seit Herbst 2013, wurden Logistik, Struktur und Workflow für die personalisierte Diagnostik unter klinischen Bedingungen erstellt: Die klinische Datenbank für das Register wurde erfolgreich aufgebaut, und die Logistik für die Verschickung und Analyse der Tumor- und Blutproben wurde etabliert.
Phase 1 läuft: Machbarkeits-Registerstudie mit Sequenzierung
Es geht vor allem um einige besonders „problematische“ Tumorentitäten bei Kindern mit häufig auftretenden Rückfällen, für die es bislang kaum standardisierte Rezidivprotokolle gibt. Dies sind Tumoren des Nervensystems wie das Gliom/Glioblastom (21%), Neuroblastom (9%), Ependymom und Medulloblastom (je 6%); Knochentumoren wie Ewing-, Weichteil- oder Osteosarkome (zusammen 18%); Leukämien wie akute lymphatische Leukämie (ALL: Hochrisiko oder nach erfolgloser Stammzelltransplantation, 6%) oder akute myeloische Leukämie (AML, 2%), Non-Hodgkin-Lymphome sowie rhabdoide Tumoren (3%). „Den von solchen Krebserkrankungen betroffenen und nach der Primärtherapie wiedererkrankten Kindern möchten wir zukünftig neue Behandlungsoptionen bieten“, so Eggert.
In der ersten „eigentlichen“ Phase des INFORM-Projekts soll das Krebsgenom von mindestens 260 Kindern mit Rezidiven dieser Krebserkrankungen entschlüsselt werden. Die Mehrheit der bundesweit 58 Kinderkrebszentren hat bereits Proben für die Sequenzierung eingesandt, berichtet Eggert auf Nachfrage von Medscape Deutschland. „Das Engagement aller Zentren ist groß. Und auch die Eltern sind sehr kooperativ und mit der Zweitbiopsie zum Zeitpunkt des Rezidivs fast immer einverstanden.“ Bislang liegen Proben von 150 Kindern vor, damit liegt das Projekt gut im Zeitplan.
Untersuchungskosten liegen derzeit bei etwa 3.000 Euro pro Patient
Nach Angaben von Prof. Dr. Peter Lichter, Abteilung Molekulare Genetik, DKFZ Heidelberg, der federführend an dem Projekt beteiligt ist, wurden inzwischen bereits zahlreiche Genmutationen und Mutationssignaturen in kindlichen Hirntumoren gefunden. „Das betrifft auch seltenere Varianten bis herunter zu einer Häufigkeit von einem Prozent.“
Die reinen Materialkosten für die Untersuchung des gesamten Exoms und Epigenoms liegen derzeit noch bei etwa 2.000 Euro; einschließlich Personalkosten kommen etwa 3.000 Euro zusammen, so Lichter – das ist aber bereits deutlich weniger als noch vor Jahren. Zudem werden laut Eggert auf der anderen Seite Kosten eingespart: Nur Patienten, deren Mutationssignatur wirklich passt, erhalten die auf diese Mutationen ausgerichteten – meist sehr teuren – Medikamente, und diese werden dann bei ihnen mit großer Wahrscheinlichkeit auch effektiv sein.
Erste Daten: Jedes zehnte Kind mit Tumorrückfall zeigt erbliche „Krebsgene“
Bei den bislang im INFORM-Projekt ausgewerteten Proben fällt laut Eggert bereits jetzt die hohe Zahl von Krebsprädispositionsgenen in der Keimbahn auf; der Anteil liegt bei etwa 10%: „Das hätten wir selbst in diesem vorselektierten Kollektiv nicht erwartet.“
Laut Lichter sollte dies rasch in einem größeren Kollektiv krebskranker Kinder überprüft werden, „weil es erhebliche Konsequenzen für die Versorgung unserer kleinen Patienten hätte“.
Nur drei Wochen für die Sequenzierung – mit allem Drum und Dran
„Der Vergleich des Genoms von Tumor- vs. gesunden Zellen für jeden einzelnen Patienten zeigt dessen onkogene Treibermutationen auf“, erläutert Lichter auf Nachfrage von Medscape Deutschland. Die kindlichen Tumoren sind laut Eggert „gut dafür geeignet, da Mutationen bei ihnen fast immer onkogene Treibermutationen sind.“ Sogenannte Passengermutationen ohne onkogene Bedeutung gebe es hier viel seltener als bei Tumoren von Erwachsenen.
Die Bearbeitung und Auswertung der Proben dauert in der für das INFORM-Projekt installierten Routine nur 3 Wochen. In dieser Zeit erfolgen Probengewinnung und -versand, Sequenzierung, Datenauswertung, Targetanalyse und -priorisierung, Diskussion der bis zu 5 evaluierten Targets im Tumorboard und Versand des Tumorboardprotokolls an die Studienzentrale und an das betreuende Zentrum.
Phase 2 wird eine innovative klinische Studie sein
Therapieempfehlungen gibt es in dieser ersten Phase des Projekts noch nicht, sondern das Team in der Klinik vor Ort wählt ggf. selbst passende Therapien aus. Dabei wurden bereits jetzt, vor Beginn der klinischen Studienphase, in Einzelfällen beeindruckende Behandlungserfolge erzielt.
Erst in der zweiten Phase des Projekts (2017 bis 2019), nach Auswertung aller Datensätze, werden die Koordinatoren des INFORM-Projekts für einen großen Teil der Kinder auch eine passende Therapiestudie anbieten, um das Konzept der personalisierten Medizin erstmals klinisch zu prüfen: Die Wirksamkeit und Verträglichkeit ausgewählter Medikamente soll dann in einer klinischen Studie mit mehreren (voraussichtlich 8) adaptiv rekrutierenden Armen untersucht werden (INFORM 2 unter Leitung von Prof. Dr. Olaf Witt, DKFZ Heidelberg).
Die Studie wird nicht randomisiert sein, und in jeden Studienarm werden Kinder mit verschiedenen rezidivierten Krebserkrankungen, aber (zumindest teilweise) übereinstimmenden onkogenen Treibermutationen eingeschlossen sein, die die gleiche Kombinationstherapie erhalten, erläuterte Eggert im Rahmen eines DKK-Symposiums.
Dieses Vorgehen ist so innovativ, dass das Bundesinstitut für Arzneimittelsicherheit (BfArM) erstmals mit diesem Studiendesign konfrontiert wurde und eine formelle Änderung anregte: Die Untersuchung wird in 8 Einzelstudien unter einem gemeinsamen Dachkonzept aufgeteilt.
Kombinationstherapien bieten die besten Chancen
„In den meisten Fällen wird die Behandlung mit einer Kombination aus mehreren zielgerichteten Therapien erfolgen“, so Eggert. „Damit erhoffen wir uns, eine schnelle Resistenzentwicklung der Tumorzellen möglichst zu verhindern, die wir ansonsten bei einer molekular gezielten Monotherapie ebenso beobachten wie in den 1960er-Jahren bei einer Chemotherapie mit einer Einzelsubstanz.“ Und weiter: „Es können durchaus zwei bis drei verschiedene Wirkstoffe von verschiedenen Pharmaunternehmen sein, die hier gemeinsam verabreicht werden.“ Solche maßgeschneiderten Zusammenstellungen können tatsächlich als personalisierte Therapien betrachtet werden.
Für etwa die Hälfte der 130 Kinder, deren Genom bereits sequenziert wurde, findet man bereits Ansätze für passende Medikamente. Sie sind bei Erwachsenen in den verschiedensten Indikationen zugelassen, selten jedoch bei Kindern, da es für sie bislang kaum Studien gibt.
Die Zulassungssituation könnte sich jedoch bald ändern, erklärt die Expertin gegenüber Medscape Deutschland: „Künftig sind Pharmafirmen angehalten, alle ihre zielgerichteten Krebsmedikamente auch in Studien mit Kindern zu untersuchen, sofern sie nicht nachweisen können, dass die ganz spezielle Zielstruktur ihres Medikaments bei Kindern nicht existiert.“ Solch ein Nachweis dürfte in den allermeisten Fällen kaum möglich sein.
„Das bringt mehr Aufwand für die Unternehmen mit sich, aber auch bessere Aussichten für schwerkranke Kinder“, so Eggert: „Die Verfügbarkeit hochwirksamer Medikamente für die jungen Patienten wird beschleunigt.“
REFERENZEN:
1. 32. Deutscher Krebskongress, 24. bis 27. Februar 2016, Berlin
Diesen Artikel so zitieren: Krebsrezidive bei Kindern: INFORM – erst Tumorgenom sequenzieren, dann individuell maßgeschneidert therapieren - Medscape - 3. Mär 2016.
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