Bremen – Gut ein Jahr ist es her, dass im Krankenhaus Reinkenheide in Bremerhaven eine Organentnahme aus dem Ruder lief: Es war eine verunglückte Frau mit schwerem Schädel-Hirn-Trauma eingeliefert worden. Ihre Zustimmung zur Organspende lag vor. Aber kurz vor der Organentnahme wurde bei bereits geöffnetem Körper der Prozess abgebrochen (wie Medscape Deutschland berichtete). Warum?

Prof. Dr. Gundolf Gubernatis
Ein Jahr später, Ende 2015, veröffentlichte die Prüfungs- und Überwachungskommission der Bundesärztekammer einen Bericht zum Sachverhalt. Darin wird über Unstimmigkeiten berichtet; dies im Hinblick auf den Apnoe-Test, der für die Hirntodfeststellung bei der Spenderin eine Rolle spielte; in Bremerhaven wurde der vorgeschriebene pCO2-Wert (Kohlenstoffdioxid-Partialdruck) von 60 mmHg nicht erreicht. Doch Ablauf und Ergebnisse der klinischen Feststellung des Hirntodes seien gleichwohl unter den Beteiligten „unstreitig“, so der Bericht. Die Spenderin sei sicher hirntot gewesen. Daran ändere auch nichts, dass der Apnoe-Wert im Nachhinein handschriftlich verändert wurde.
Das sieht auch Prof. Dr. Gundolf Gubernatis so, Transplantationsbeauftragter des Verbandes der leitenden Krankenhausärzte Deutschlands (VLK), Wilhelmshaven. Aber er meint auch, dass bei der Hirntodfeststellung immer noch zu viele Fehler passieren. War Bremerhaven ein Einzelfall? Offenbar nicht.
Auf dem von Gubernatis moderierten Workshop „Hirntod – Diagnostik und begleitende intensivmedizinische Maßnahmen“ auf dem „Symposium Intensivmedizin und Intensivpflege“ in Bremen erläuterte die Osnabrücker Neurologin Dr. Elisabeth Rehkopf Zahlen einer Auswertung, die Gubernatis´ Kritik bestätigen [1]. Die Auswertung liegt Medscape Deutschland vor.
Hirntodprotokoll unterschrieben, obwohl der Patient noch Lebenszeichen zeigte
Die Zahlen zeigen, dass in der Region Nord (Niedersachsen, Hamburg, Bremen, Schleswig-Holstein) in den Jahren 2001 bis 2005 in 16 der 58 unterschriebenen Hirntodprotokolle vor Organentnahmen – und damit in fast 28% der geprüften Fälle – die Hirntoddiagnose nicht bestätigt werden konnte.
Bei 2 der 16 Patienten lagen bereits 2 unterschriebene Hirntodprotokolle vor. Bei 5 der 16 Patienten mit vom Erstuntersucher ausgefülltem und unterschriebenem Hirntodprotokoll konnten noch Spontanatmung oder Hirnaktivität im EEG nachgewiesen werden, also eindeutige Lebenszeichen, so Rehkopf. „Das heißt: Die Protokollbögen wurden ausgefüllt, obwohl noch Lebenszeichen feststellbar waren.“ Bei einem dieser Patienten (1,78%) lag sogar ein von 2 Untersuchern erstelltes Hirntodprotokoll vor.
Zu den 16 Fällen unter „Implausibiliäten/Inkohärente Befunde/Probleme“ gehörten gar nicht oder fehlerhaft durchgeführte Apnoetest-Untersuchungen, solche bei denen trotz erhaltener eine ausgefallene Spontanatmung attestiert wurde und solche, bei denen trotz Kenntnis positiver Medikamentenspiegel klinisch der Hirntod diagnostiziert wurde, so die Untersuchung.
In einem Fall, in dem hochamplitudige Ausschläge in der Hirnstromkurve (EEG) nachgewiesen werden konnten, war sie als Null-Linien-EEG gedeutet worden, hieß es. In einem anderen Fall war der Hirntod bestätigt worden, ohne dass der Nachweis der Irreversibilität (durch Wiederholungsuntersuchung oder technische Zusatzuntersuchung) erfolgt war.
Zweimal resultierten fehlerhafte Befundungen mit cranialer Computertomografie (CCT) zu falschen Diagnosen und damit zu Fehlschlüssen im Ablauf der Hirntoddiagnostik. Unvollständig ausgefüllte Protokolle mit fehlender Angabe des Blutdrucks oder fehlendem Datum der Untersuchung mussten als reine Formfehler bewertet werden.
Die Forderung: Besser qualifizierte Ärzte
Kein Wunder, dass Rehkopf eine bessere Qualifikation der Hirntod-feststellenden Ärzte forderte. „Es liegt an der Qualität der Untersucher“, sagte Rehkopf. „Die Hirntoddiagnostik ist in 99,9 Prozent aller Fälle sicher, aber die Untersucher sind es nicht in diesem Maße.“
Gubernatis hat bereits 2014 sowohl an die Bundesärztekammer (BÄK) als auch an Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) geschrieben, um auf Probleme bei der ärztlichen Qualifikation zur Hirntoddiagnostik aufmerksam zu machen, wie er selbst berichtet. Seine Einwände hatten wenig Erfolg.
Im Juli 2015 hat die Bundesärztekammer neue Richtlinien zur Feststellung des Hirntodes erlassen. Sie legen fest, dass die für die Hirntoddiagnostik zuständigen Ärzte auf dem Protokollbogen ihre Qualifikation bestätigen müssen. Damit bestätigen sie, dass sie Fachärzte (Neurologe oder Neurochirurg) und zur klinischen und apparativen Hirntoddiagnostik in der Lage sind und auch die Indikation zur Diagnostik eines irreversiblen Hirnfunktionsausfall prüfen können. Eine spezielle Weiterbildung zur Hirntoddiagnostik ist nicht zur Pflicht geworden.
„Die Kenntnisse der neuen Richtlinie sind verbesserungswürdig“
Dr. Detlef Bösebeck, geschäftsführender Arzt in der Region Nord-Ost der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO), hält die geforderten Voraussetzungen – anders als Rehkopf – für ausreichend. Die DSO habe die Dokumentationsqualität der Hirntoddiagnostik im 2. Halbjahr 2015 in der Region Nord-Ost gesichtet, also Fälle nach den neuen BÄK-Bestimmungen. „Wir haben die Dokumentation geprüft“, so Bösebeck zu Medscape Deutschland.
Geprüft wurden 51 Dokumentationen. „Die Hälfte der Protokolle war korrekt ausgefüllt“. 25% wiesen formelle Fehler auf, Flüchtigkeitsfehler beim Ausfüllen, so Bösebeck. Und weitere 25% mussten teilweise wiederholt werden, weil etwa die Reihenfolge von klinischer und apparativer Untersuchung nicht eingehalten wurde.
„Aber es gibt keinen Fall, der kritisch gewesen wäre, wo eine Organentnahme stattgefunden hätte und der Spender nicht tot gewesen wäre.“ Für den DSO-Experten liegen die Dinge deshalb anders als für Rehkopf: „Die Qualität der Ärzte ist gut, aber die Kenntnisse der neuen Richtlinie sind verbesserungswürdig.“
Dass laut der DSO-Untersuchung auch gestandene Neurologen Flüchtigkeitsfehler machen, ist für Bösebeck eher ein Zeichen dafür, dass die Qualität der Ärzte ausreicht. „Die Fehler haben mit der Umstellung der Richtlinien zu tun und mit den neuen Protokollen. Das ist keine Frage der Qualifikation der Ärzte.“
Allerdings gibt er zu bedenken, dass gerade in den kleinen Krankenhäusern Neurologen und Neurochirurgen fehlen, die die Hirntoddiagnostik machen. „Wir fordern deshalb qualifizierte Konsiliardienste, die den kleinen Krankenhäusern helfen können.“
Abläufe der abgebrochenen Organentnahme in Bremerhaven „streitig“
Möglicherweise hätten solche Dienste dem Bremerhavener Krankenhaus Reinkenheide geholfen. Denn die Organentnahme endete damit, dass die Spenderin starb, ohne dass ihre Organe entnommen wurden. Ablauf und Ergebnisse der klinischen Feststellung des Hirntodes seien unter den Beteiligten wie gesagt „unstreitig“ gewesen.
„Streitig“ dagegen seien die Abläufe der abgebrochenen Organentnahme, „da das Klinikum und die Deutsche Stiftung Organtransplantation (DSO) im Nachhinein versucht haben, die Verantwortung für die gescheiterte Organentnahme der Gegenseite zuzuschieben“, heißt es in dem Bericht. Beide Seiten hätten insoweit „die Abläufe nicht zutreffend geschildert.“
REFERENZEN:
1. 26. Symposium Intensivmedizin und Intensivpflege, 24. bis 26. Februar 2016, Bremen
Debatte zur Hirntoddiagnostik: „Weit weniger sicher, als immer behauptet wird“
Ethikrat: Hirntod vor Organentnahme – doch was ist alles zum Organerhalt erlaubt?
Hirntod als häufige Fehldiagnose? Der Vorwurf lässt sich kaum halten
Sollen Neugeborene Organspender sein? Ein Fall aus Großbritannien wirft ethische Fragen auf
Diesen Artikel so zitieren: „Hirntoddiagnostik in 99,9 Prozent aller Fälle sicher – aber die Untersucher sind es nicht …“ - Medscape - 2. Mär 2016.
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