Menschen, die an einem Chronischen Fatigue-Syndrom (CFS) leiden, stehen unter einem hohen Leidensdruck. Die Diagnose ist schwierig, die Ursachen sind kaum erforscht – all dies erschwert den Patienten, Zugang zu einer lindernden Therapie zu finden. Sie können unter Umständen sogar pflegebedürftig werden. Eine auf The Lancet online publizierte Studie macht jetzt darauf aufmerksam, dass Menschen mit CSF im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung stärker suizidgefährdet sein könnten [1].
Wie Dr. Emmert Roberts von der Fakultät für Psychologische Medizin am King’s College London und seine Mitautoren berichten, gilt dies besonders für CFS-Patienten, bei denen zusätzlich eine Depression diagnostiziert worden ist.
Zweifel an erhöhter Suizidneigung
„Die Ergebnisse der Studie sind mit Vorsicht zu interpretieren“, geben Nav Kapur und Roger Webb von der Universität Manchester in ihrem begleitenden Kommentar zu bedenken [2]. Auch wenn es sich bislang um die umfassendste Studie zur Mortalität bei CFS handele, sei die Anzahl der Patienten für eine Sterblichkeitsanalyse recht klein, die betrachtete Kohorte eher den schweren Fällen zuzuordnen und für die Vergleichspopulation wurden Daten aus England und Wales herangezogen, während der Einzugsbereich der Spezialkliniken für CFS-Patienten hauptsächlich London und Südengland umfasse, so ihre Einwände.
Prof. Dr. Carmen Scheibenbogen von der Berliner Charité steht der Studie eher noch kritischer gegenüber. „Die Diagnosekriterien für die Auswahl der Patienten sind heterogen. Sie erfolgte unter anderem anhand der Oxfordkriterien, die nicht gut geeignet sind, CFS von anderen mit Fatigue einhergehenden Erkrankungen abzugrenzen“, äußert die stellvertretende Leiterin des Instituts für Medizinische Immunologie gegenüber Medscape Deutschland. Im Rahmen der Patientenversorgung leitet sie dort die Immundefekt-Ambulanz und hat so direkten Kontakt zu CFS-Patienten.
Aus eigener Erfahrung hält Scheibenbogen CFS-Patienten für nicht weniger psychisch stabil als andere Menschen. Sie selbst habe einige Patienten mit extremem Leidensdruck kennengelernt, die dennoch einen starken Lebenswillen besaßen. „Wenn schwerstkranke Patienten über Suizid nachdenken, dann meist aus Verzweiflung über die Erkrankung und die Begleitumstände, denn vielen CFS-Patienten widerfährt große Ungerechtigkeit, weil sie keine Anerkennung von Ärzten und Versicherungen und damit keine Unterstützung bekommen“, urteilt die Berliner Immunologin.
Ist die hohe Selbstmordrate Zufall?
Die Wissenschaftler aus London untersuchten in ihrer retrospektiven Kohorten-Studie die Mortalität von CSF-Patienten im Hinblick auf alle Todesursachen, Tod durch Krebs und Tod durch Suizid. Für die Studie griffen Roberts und seine Kollegen auf Datenmaterial zurück, das aus einem speziellen Register des zum South London und Maudsley NHS Foundation Trust gehörenden Biomedizinischen Forschungszentrums stammt.
Unter den ausgewählten 2.147 CFS-Fällen, die in Spezialkliniken behandelt worden waren, gab es in dem 7-jährigen Erfassungszeitraum 17 Todesfälle. 8 Menschen starben an malignen Neoplasien, 5 durch Suizid und 4 durch andere Ursachen. Im Vergleich zur allgemeinen Bevölkerung von England und Wales stellten sie bei CFS-Patienten weder für die Mortalität an sich noch für die krebsbedingte Sterblichkeit einen signifikanten Unterschied fest – unabhängig von Geschlecht und Alter.
Bei Suizid als Todesursache registrierten sie jedoch einen signifikanten Anstieg der standardisierten Mortalitätsrate (SMR). Auch wenn die Autoren einräumen, dass aufgrund der geringen Zahl der Wegfall von 2 Todesfällen genüge, um das Ergebnis ins Gegenteil zu verkehren, halten sie den geschilderten Effekt nicht für zufällig. Dies sehen auch die Kommentatoren so, fordern aber umfangreiche Untersuchungen, um letztlich Klarheit über die Bedeutung des geschilderten Befundes zu gewinnen.
Depression als zusätzlicher Risikofaktor?
Wie das Autorenkollektiv weiter feststellte, litten 216 der CFS-Patienten gleichzeitig an Depressionen. Bei den 4 Personen dieser Gruppe, die im Studienzeitraum starben, geschah dies in 2 Fällen durch Selbsttötung. Wie die Subgruppen-Analyse zeigt, sind Frauen gegenüber Männern, obwohl statistisch nicht signifikant, etwas stärker suizidgefährdet. Das höchste Risiko besitzen jedoch CFS-Patienten, zu deren Lebzeiten auch eine Depression festgestellt worden ist (9,57; 95%-Konfidenzintervall: 1,34-68,13; p = 0,02).
„Obwohl die suizid-spezifische SMR im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung höher ist, ist sie niedriger als für psychiatrische Erkrankungen“, schreiben die Autoren unter Verweis auf die Literatur. Auch wenn der Suizid als Todesursache bei CFS-Patienten damit ein seltenes Ereignis bleibe, legen sie Medizinern, die CFS-Patienten behandeln, nahe, nach psychischen Anhaltspunkten für eine Gefährdung zu fahnden.
Für Scheibenbogen geht diese Aussage in die falsche Richtung. Sie helfe nicht, Ärzte im Umgang mit CFS-Betroffenen zu sensibilisieren. „Inzwischen gibt es eine Vielzahl wissenschaftlicher Untersuchungen und klinischer Studien, die widerlegen, dass CFS eine psychische Erkrankung ist“, betont sie und verweist zudem darauf, dass CFS international als eine neuroimmunologische Erkrankung klassifiziert wird.
„Das Ansprechen auf Rituximab und der Nachweis von Autoantikörpern sind Evidenzen dafür, dass es sich um eine Autoimmunerkrankung handelt“, erläutert die Medizinerin, die selbst auf diesem Gebiet forscht. Ihrer Ansicht nach entwickeln manche CFS-Patienten eine depressive Reaktion aufgrund der schweren chronischen Erkrankung sowie des zusätzlichen Verlustes des sozialen Umfeldes und des Arbeitsplatzes. Darin unterscheide sich CFS aber nicht von anderen chronischen Erkrankungen.
REFERENZEN:
1. Roberts E, et al: The Lancet (online) 09. Februar 2016
2. Kapur N, et al: The Lancet (online) 9. Februrar 2016
Diesen Artikel so zitieren: Chronisches Fatigue-Syndrom: Besteht ein höheres Suizidrisiko? - Medscape - 25. Feb 2016.
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