Trotz all dieser Vorzüge seien die Stillraten weltweit niedrig, besonders in einkommensstarken Ländern, monieren Rollins und seine Kollegen. Zwar würden in allen analysierten Ländern mehr als 80% der Neugeborenen gestillt; jedoch weniger als die Hälfte erstmals innerhalb der ersten Lebensstunde.
In England werden weniger als 1% aller Kinder im Alter von 12 Monaten noch gestillt, in Irland sind es 2% und in Dänemark 3%. In Deutschland bekommen noch 23% der 12 Monate alten Babys Muttermilch, in den USA 27%. In Bolivien werden dagegen noch 88% der Babys im Alter von einem Jahr gestillt, in Indien 92%, in Ruanda 96% und in Bangladesch 97%. „Stillen ist eine der wenigen gesunden Verhaltensweisen, die in ärmeren Ländern verbreiteter sind als in reichen“, bemerkt Victora hierzu.
Frühes Abstillen verhindern
„Dieses Dossier zeigt erneut, dass man Stillen in jeder Hinsicht fördern sollte“, betont Wöckel. Dafür sei es wichtig, Barrieren zu erkennen, etwa entzündete Brustwarzen, was bei zahlreichen Müttern zum frühen Abstillen führe. „Medizinisch gibt es dafür keinen Grund“, erklärt er. „Das wissen viele Mütter nicht, und somit gehen die positiven gesundheitlichen Effekte des Stillens für ihre Babys verloren, vor allem, weil es nicht genügend Hilfsstrukturen gibt“, bemerkt er.
Daher habe die Nationale Stillkommission im Jahr 2013 erstmals eine evidenzbasierte Leitlinie zur Prävention und Therapie entzündlicher Brusterkrankungen in der Stillzeit initiiert, sodass Stillberaterinnen, Hebammen, Kinderärzte und Gynäkologen eine bessere Versorgung der betroffenen Mütter gewährleisten und ihnen einen längere Stillzeit ermöglichen könnten, erklärt der Gynäkologe.
Bremst die Babykost-Industrie stillende Mütter aus?
Niedrige Stillraten, besonders in einkommensstarken Ländern, gingen nicht zuletzt auf das Konto aggressiver Marketingmethoden der Hersteller von Babymilchpulver, schreiben die Autoren der 2. Serie. Dadurch, dass zahlreiche Länder den im Jahr 1981 auf der 34. Weltgesundheitskonferenz beschlossenen „International Code of Marketing of Breastmilk Substitites (BMS)“ nur mangelhaft umsetzten und kontrollierten, stiegen die Umsätze der Hersteller von Babyersatznahrung immer weiter, besonders in ärmeren Ländern.
Die Sättigung der Märkte in den einkommensstarken Ländern habe dazu geführt, dass die Industrie verstärkt in die aufstrebenden Länder im Weltmarkt expandiere, so die Hypothese von Rollins und seinen Kollegen. Niedrige Stillraten in reicheren Familien in diesen Ländern ließen vermuten, „dass ärmere Mütter zur Pulvernahrung greifen, sobald ihr Einkommen steigt“, befürchten Victora und seine Kollegen.
Marketingstrategien der Milchpulverhersteller als weltweites Still-Hemmnis
Auch Alison McFadden von der School of Nursing and Health Sciences an der University of Dundee, Großbritannien, und seine Kollegen sehen die Marketingstrategien der Hersteller von Babymilchpulver als „beträchtliches weltweites Still-Hemmnis“, zumal die Marketing-Budgets der Hersteller weitaus höher seien als die Ausgaben vieler Länder für die Stillförderung, schreiben sie in einem Kommentar zu den beiden Publikationen im Lancet [3]. So werde Milchpulver mittlerweile zu Unrecht als „normale Nahrung für jedes Baby“ betrachtet.
Zudem beeinflussen gesellschaftliche Haltungen und politische Rahmenbedingungen die Entscheidung der Mutter zu stillen, bemerken Rollins und seine Kollegen; etwa die Akzeptanz des Stillens in der Öffentlichkeit oder am Arbeitsplatz sowie die Beratung der Mütter zu den Vorzügen und der Technik des Stillens.
Forderungen: Von Aufklärung bis Regulierung
Regierungen sollten mehr in die Förderung des Stillens und die Umsetzung des Codes investieren, fordern sie. Momentan würden zwar die Frauen zum Stillen ermutigt, „jedoch ohne die notwendigen ökonomischen und sozialen Rahmenbedingungen zu schaffen, etwa unterstützende Gesundheitssysteme, adäquate Mutterschaftsleistungen, Interventionen am Arbeitsplatz, Beratung und Schulung“, moniert Rollins.
Das Autorenkollektiv schlägt 6 Aktionspunkte vor:
öffentliche Aufklärung über die Evidenz zur fundamentalen Rolle des Stillens,
eine positive Haltung der Gesellschaft gegenüber dem Stillen zu etablieren,
Stillförderung in Präventionsprogramme nicht-übertragbarer Krankheiten einzubinden,
die Industrie für Milchnahrung zu regulieren,
mehr Maßnahmen zur Stillförderung und
strukturelle und soziale Barrieren zu beseitigen, die Frauen am Stillen hindern.
Die öffentliche Aufklärung, also die vorliegende Evidenz zum gesundheitlichen Nutzen des Stillens auf leicht verständlichem Niveau aufzubereiten und zu streuen, hält auch Wöckel für die effektivste Maßnahme.
Er bemängelt dabei auch, dass es Müttern nach Kaiserschnitten nicht in allen Geburtskliniken ermöglicht wird, ihr Neugeborenes innerhalb der ersten Lebensstunde zu stillen. „Dabei wissen wir heute, dass die Stillraten hoch sind, wenn das frühe Bonding klappt.“ Hierfür brauche es Konzepte, die trotz Sectio einen frühen Hautkontakt zwischen Mutter und Kind ermöglichten.
REFERENZEN:
1. Victora CG, et al: Lancet 2016;387:475-490
2. Rollins NC, et al: Lancet 2016;387:491-504
3. McFadden A, et al: Lancet 2016;387:413-415
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Diesen Artikel so zitieren: Zaubertrank Muttermilch: Stillen kann jährlich Hunderttausende Kinderleben retten - Medscape - 12. Feb 2016.
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