IDEFICS-Programm gegen Adipositas bei Kindern: Gut informiert sein und danach auch zu handeln, sind zwei Paar Stiefel

Petra Plaum

Interessenkonflikte

9. Februar 2016

In Sachen Ess- und Trinkverhalten hat die Intervention viel bewegt, so Pigeot im Gespräch mit Medscape Deutschland. Sie berichtet von Eltern, die zu Beginn beteuerten: „Mein Kind trinkt kein Wasser.“ Kaum gab es in Schulen und Kindergärten Trinkwasserspender, kaum luden Pädagogen zu Verkostungen mit teilweise eingefärbtem Leitungswasser ein, befanden immer mehr Kinder: „Wasser ist ja lecker!“

„Manche Kinder dachten, Möhren wachsen in Gläsern“, schildert Pigeot. Das änderte sich im Laufe der Intervention. Unterm Strich kamen Obst und Gemüse bei den meisten Kindern dann an, wenn sie geschnitten und hübsch arrangiert waren. Ein Best Practice-Beispiel: In einer Interventionsschule in Delmenhorst bereiten Eltern und Kinder nun regelmäßig gemeinsam Obst-Spieße zu. 

Die Studie belegte auch einmal mehr, dass wenig Schlaf und ein erhöhter Body-Mass-Index (BMI) zusammenhängen – ein steigender Ghrelin- und sinkender Leptinspiegel aufgrund des Schlafmangels könnten dafür verantwortlich sein. Auch dass eine intensive Mediennutzung Übergewicht fördert, zeigten die Ergebnisse erneut. Hierfür macht Pigeot zum einen die wenige Bewegung von Vielguckern verantwortlich, zum anderen die TV-Werbung, die den Appetit auf Snacks und Süßigkeiten steigert.

 
Wir erreichten Eltern und Kinder offenbar nicht so gut, wie wir wollten. Prof. Dr. Iris Pigeot
 

Pigeot ergänzt, dass die Prävention auch deshalb schwer fällt, weil viele Eltern ihren Kindern offenbar zu wenig Grenzen setzen. „Viele Kinder beklagten, dass es bei ihnen zuhause keine Regeln gibt. Alleine schaffen sie es kaum, gesund zu leben.“ Nur 10% der Teilnehmerkinder der Studie gelang es, ihren Alltag so zu gestalten, dass 4 oder mehr der 6 Kernbotschaften umgesetzt wurden. „Diese Kinder entwickelten erwartungsgemäß nur selten Übergewicht“, berichtet Pigeot. „Anders die 30 bis 40 Prozent der Teilnehmer, die sich nur an eine oder gar keine Kernbotschaft hielten.“

Bewegt sich nur mit Leidensdruck etwas?

Zu Beginn des Interventionszeitraums waren 19% aller Interventionsgruppen-Kinder und 18% der Kontrollgruppenkinder übergewichtig. 2 Jahre später wiesen in der Interventionsgruppe 23,6% Übergewicht auf, in der Kontrollgruppe 22,9%. Ein signifikanter Unterschied zeigte sich jedoch in der Subgruppe derjenigen Kinder, die bereits zu Beginn der Untersuchungen zu viel wogen. Von den Kontrollgruppenkindern lagen hier 2 Jahre später 12% wieder im Normalbereich, von den Interventionsgruppenkindern beachtliche 16%.

Dieser Effekt blieb nach Bereinigung um Faktoren wie Alter, Geschlecht und Herkunftsland signifikant. „Die vorliegenden Resultate implizieren, dass Kinder mit bestehendem Übergewicht eine Gruppe sein könnten, die einen Benefit von gesundheitsfördernden Interventionen hat, auch wenn diese sich an alle Kinder in einer Gemeinde richten“, schlussfolgert das Autorenteam um Dr. Lauren Lissner aus der Sahlgrenska Academy der University of Gothenburg in Schweden, das die Aspekte der Sekundärprävention untersucht hat.

Und jetzt? Anregungen für Ärzte und Politiker

Zukünftige Interventionsprogramme für Familien, so schlägt Pigeot vor, sollten am besten bereits in der Schwangerschaft ansetzen. Schließlich belegen Studien, dass eine hohe Gewichtszunahme werdender Mütter mit einem Risiko des Kindes assoziiert ist, übergewichtig zu werden. Auch nach der Geburt können Eltern die Weichen noch stellen: „Frühgeborene, die zu schnell zu viel zunehmen, legen Fettzellen an, was in ihrem späteren Leben Übergewicht begünstigt“, argumentiert die Expertin. Für alle Babys unabhängig von der Reife gilt auch: Wer gestillt wird, wird später seltener dick.

 
In der Sekundärprävention war die Studie erfolgreich. Mehr übergewichtige Kinder in der Interventionsregion wurden wieder normalgewichtig. Prof. Dr. Iris Pigeot
 

Von Gynäkologen und Kinderärzten wünscht Pigeot sich, dass diese Eltern stärker mit solchen Fakten vertraut machen. Und wenn Kleinkind-Eltern ihre Kinderärzte auf gesunde Lebensmittel ansprechen, dürfe mancher Ernährungsmythos gerne als solcher entlarvt werden. Sie verweist z.B. darauf, dass viele Eltern nicht wussten, dass Leitungswasser in Deutschland nicht nur ohne Bedenken getrunken werden kann, sondern sogar weniger belastet ist als zahlreiche Tafelwässer.

Andere Getränke hingegen halten Eltern oft für besser, als sie sind. „Zum Beispiel Smoothies", nennt Pigeot ein Beispiel. „Ich denke, Eltern ist zu wenig bewusst, dass ein kleiner Smoothie einer großen Menge Früchten und Gemüse entspricht und nicht wirklich sättigt, aber viele Kalorien enthalten kann.“ Das vor allem dann, wenn Zucker zugesetzt ist.

Auch daran, wie wichtig viel Schlaf und ausreichend Bewegung sind, müssten Eltern noch viel häufiger erinnert werden, wünscht sich die Expertin. Das habe die Interventionsstudie einmal mehr verdeutlicht.

In punkto Bewegung sieht sie nun die Städteplaner und Bildungspolitiker in der Pflicht. „Als großes Hindernis für mehr Bewegung im Freien stellten sich Sicherheitsbedenken der Eltern heraus“, nennt sie ein Beispiel. „Wer lässt schon gerne sein Kind draußen spielen, wenn z.B. der Straßenverkehr eine Gefährdung darstellt?“ Verkehrsberuhigte Zonen sowie gute und einladende Spiel- und Bolzplätze täten Not.

Auch sei bedenklich, wenn bereits Kindergartenkinder in ihrem Bewegungsdrang gebremst würden, „sie mit Malen quasi ruhiggestellt werden“. Zudem sollten mehr Kindergärten und Schulen frisches, gesundes und trotzdem schmackhaftes Essen anbieten. Nur, wenn viele Akteure dauerhaft an einem Strang zögen, merkt Pigeot an, könne europaweit dem Übergewicht Heranwachsender vorgebeugt werden.

 

REFERENZEN:

1. Pigeot (Hg.): Obes Rev 2015;16 (Issue Supplement S2):1–174

 

Kommentar

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