Koronare Mehrgefäßerkrankung: Müssen tatsächlich alle Stenosen beseitigt werden?

Nadine Eckert

Interessenkonflikte

4. Februar 2016

Bei KHK-Patienten mit Mehrgefäßerkrankung, die also zum Zeitpunkt der  Katheteruntersuchung mehrere Koronarstenosen haben, stellt sich die Frage, ob  alle Läsionen sofort und gleichzeitig behandelt werden müssen. Eine aktuell in JACC: Cardiovascular Interventions erschienene Studie deutet auf den ersten Blick genau darauf hin: Patienten, die  bei der Entlassung aus dem Krankenhaus inkomplett revaskularisiert waren,  hatten im Folgejahr ein beträchtlich erhöhtes Risiko für Tod, Herzinfarkt oder  erneute Revaskularisierung [1].

           

Prof. Dr. Peter Radke

           

„Es handelt sich um die  Analyse eines sehr großen Registers, die vor allem zeigt, dass Patienten mit primär  inkompletter Revaskularisation ein Hochrisiko-Kollektiv darstellen und  medikamentös besonders sorgfältig eingestellt werden sollten. Man kann  daraus aber nicht direkt ableiten, dass man bei allen Patienten sofort  versuchen muss, eine komplette Revaskularisation herzustellen“, kommentiert Prof. Dr. Peter Radke, Chefarzt des  Fachzentrums Innere Medizin & Kardiologie an der Schön Klinik Neustadt, die  Daten gegenüber Medscape Deutschland.

Mehr Todesfälle,  Herzinfarkte und erneute Revaskularisierungen

Das Swedish Coronary Angiography and Angioplasty Registry  (SCAAR) wurde 1989 etabliert und enthält alle relevanten medizinischen Daten  von Patienten, die in Krankenhäusern in Schweden eine Koronarangiographie oder  eine perkutane Koronarintervention (PCI) erhalten haben. Die Kardiologin Dr. Kristina  Hambraeus vom Krankenhaus Falun im gleichnamigen schwedischen Ort und ihre  Koautoren analysierten die Daten von mehr als 23.000 Patienten mit  Mehrgefäßerkrankung, die von 2006 bis 2010 eine PCI erhielten. Eine inkomplette  Revaskularisierung bei Entlassung aus dem Krankenhaus – definiert als  mindestens eine unbehandelte Stenose von mindestens 60% – wiesen 2 Drittel (65%)  der Patienten auf.

Die Patienten mit inkompletter Revaskularisierung hatten im Vergleich zu den  komplett revaskularisierten Patienten im Folgejahr eine höhere Sterblichkeit  (7,1 vs 3,8%), mehr Herzinfarkte (10,4 vs 6,0%) und mehr erneute Revaskularisierungen  (20,5 vs 8,5%).

Inkomplette  Revaskularisation muss kein Fehler sein

 
Die Analyse zeigt, dass Patienten mit primär inkompletter Revaskularisation ein Hochrisiko-Kollektiv darstellen und medikamentös besonders sorgfältig eingestellt werden sollten. Prof. Dr. Peter Radke
 

Radke betont aber, dass es häufig Gründe für eine inkomplette Revaskularisierung  gäbe: „Für Patienten beispielsweise, bei denen die Intervention der  vordringlichen Zielläsion viel Zeit, Kontrastmittel und Röntgenstrahlung  erfordert, kann es sehr sinnvoll sein, weitere signifikante Stenosen erst in  einer zweiten Intervention anzugehen. Es ist bekannt, dass eine längere Dauer  der Prozedur die Komplikationsrate beispielsweise hinsichtlich eines  Nierenversagens deutlich erhöht. Zudem gibt es die Gruppe von Patienten mit  chronischen, kompletten Gefäßverschlüssen, denen man sich – sofern es sich  nicht um die ursächliche Stenose handelt – eher in einem getrennten Verfahren  zuwendet. Und schließlich kann auch Multimorbidität respektive das Alter des  Patienten eine Rolle spielen.“

Tatsächlich waren die inkomplett revaskularisierten Patienten in der Studie  signifikant älter und kränker: Sie hatten häufiger schon einen Herzinfarkt oder  Schlaganfall gehabt und litten öfter an Diabetes, Herzinsuffizienz und  peripherer arterieller Verschlusskrankheit (pAVK). Außerdem war ihr Charlson  Comorbidity Index (CCI), der bei Patienten mit mehreren Erkrankungen das  Sterberisiko über die nächsten 10n Jahre angibt, höher.

Um diese Unterschiede auszugleichen, führten die Autoren ein  Propensity-Score-Matching durch, unter anderem wurden dabei Patienten mit  gleichem CCI verglichen. Das Ergebnis der angepassten Analyse glich dem der  primären Analyse: Inkomplett revaskularisierte Patienten hatten ein doppelt so  hohes Risiko für Tod, Herzinfarkt oder erneute Revaskularisierung wie komplett  revaskularisierte Patienten.

 
Es hat sich gezeigt, dass die Prognose der Patienten besser ist, wenn eine gute Selektionierung der Stenosen vorgenommen wird. Prof. Dr. Peter Radke
 

„Mit dem Matching anhand des Propensity Scores wird in Beobachtungsstudien  versucht, Ungleichgewichte zwischen den Gruppen zu egalisieren. Doch nicht alle  Störfaktoren, die eine Rolle spielen, sind bekannt oder messbar“, schränkt  Radke die Aussagekraft dieser Analyse ein.

Akut oder stabil  beeinflusst Therapiestrategie

Der Neustädter Kardiologe merkt außerdem an, dass Infarktpatienten und  Patienten mit stabiler KHK in dem Patientenkollektiv nicht normalverteilt  gewesen seien. Welcher dieser beiden Gruppen ein Patient angehört, könne aber  beeinflussen, ob eine komplette Revaskularisierung aller Stenosen überhaupt  angestrebt wird.

Bei Patienten mit akutem Herzinfarkt hat es sich in jüngst erschienenen Studien und Metaanalysen tatsächlich als sinnvoll herausgestellt, zeitnah eine komplette  Revaskularisierung anzustreben. Offen ist noch die Frage, ob dies am Tag der  Erstpräsentation geschehen muss, oder ob dies auch 4 bis 6 Wochen später  ausreicht.

Bei Patienten mit stabilem Beschwerdebild gilt es, etwas genauer  hinzuschauen: „Ob mittelgradige Stenosen (≥ 60%) bei stabiler KHK behandelt  werden sollten, hängt davon ab, ob sie tatsächlich eine signifikante Ischämie  erzeugen. Herausfinden lässt sich dies etwa durch die Messung der fraktionellen  Flussreserve (FFR) oder eine MRT des Herzens. Es hat sich gezeigt, dass die Prognose der Patienten  besser ist, wenn eine gute Selektionierung der Stenosen vorgenommen wird“,  betont Radke.

„Unsere Studie zeigt, dass Patienten nach inkompletter Revaskularisation  ein hohes Rezidivrisiko haben. Als beobachtende Registerstudie kann sie die  Frage, ob sich die höhere Ereignisrate durch eine Therapiestrategie, die auf  komplette Revaskularisierung abzielt, senken lässt, nicht beantworten“,  schreiben Hambraeus und ihre Kollegen. Dies müsse nun eine randomisierte Studie  zeigen.

 

REFERENZEN:

1. Hambraeus  K, et al: J Am Coll Cardiol Intv. 2016;9(3):207-215

 

Kommentar

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