Bei KHK-Patienten mit Mehrgefäßerkrankung, die also zum Zeitpunkt der Katheteruntersuchung mehrere Koronarstenosen haben, stellt sich die Frage, ob alle Läsionen sofort und gleichzeitig behandelt werden müssen. Eine aktuell in JACC: Cardiovascular Interventions erschienene Studie deutet auf den ersten Blick genau darauf hin: Patienten, die bei der Entlassung aus dem Krankenhaus inkomplett revaskularisiert waren, hatten im Folgejahr ein beträchtlich erhöhtes Risiko für Tod, Herzinfarkt oder erneute Revaskularisierung [1].

Prof. Dr. Peter Radke
„Es handelt sich um die Analyse eines sehr großen Registers, die vor allem zeigt, dass Patienten mit primär inkompletter Revaskularisation ein Hochrisiko-Kollektiv darstellen und medikamentös besonders sorgfältig eingestellt werden sollten. Man kann daraus aber nicht direkt ableiten, dass man bei allen Patienten sofort versuchen muss, eine komplette Revaskularisation herzustellen“, kommentiert Prof. Dr. Peter Radke, Chefarzt des Fachzentrums Innere Medizin & Kardiologie an der Schön Klinik Neustadt, die Daten gegenüber Medscape Deutschland.
Mehr Todesfälle, Herzinfarkte und erneute Revaskularisierungen
Das Swedish Coronary Angiography and Angioplasty Registry (SCAAR) wurde 1989 etabliert und enthält alle relevanten medizinischen Daten von Patienten, die in Krankenhäusern in Schweden eine Koronarangiographie oder eine perkutane Koronarintervention (PCI) erhalten haben. Die Kardiologin Dr. Kristina Hambraeus vom Krankenhaus Falun im gleichnamigen schwedischen Ort und ihre Koautoren analysierten die Daten von mehr als 23.000 Patienten mit Mehrgefäßerkrankung, die von 2006 bis 2010 eine PCI erhielten. Eine inkomplette Revaskularisierung bei Entlassung aus dem Krankenhaus – definiert als mindestens eine unbehandelte Stenose von mindestens 60% – wiesen 2 Drittel (65%) der Patienten auf.
Die Patienten mit inkompletter Revaskularisierung hatten im Vergleich zu den komplett revaskularisierten Patienten im Folgejahr eine höhere Sterblichkeit (7,1 vs 3,8%), mehr Herzinfarkte (10,4 vs 6,0%) und mehr erneute Revaskularisierungen (20,5 vs 8,5%).
Inkomplette Revaskularisation muss kein Fehler sein
Radke betont aber, dass es häufig Gründe für eine inkomplette Revaskularisierung gäbe: „Für Patienten beispielsweise, bei denen die Intervention der vordringlichen Zielläsion viel Zeit, Kontrastmittel und Röntgenstrahlung erfordert, kann es sehr sinnvoll sein, weitere signifikante Stenosen erst in einer zweiten Intervention anzugehen. Es ist bekannt, dass eine längere Dauer der Prozedur die Komplikationsrate beispielsweise hinsichtlich eines Nierenversagens deutlich erhöht. Zudem gibt es die Gruppe von Patienten mit chronischen, kompletten Gefäßverschlüssen, denen man sich – sofern es sich nicht um die ursächliche Stenose handelt – eher in einem getrennten Verfahren zuwendet. Und schließlich kann auch Multimorbidität respektive das Alter des Patienten eine Rolle spielen.“
Tatsächlich waren die inkomplett revaskularisierten Patienten in der Studie signifikant älter und kränker: Sie hatten häufiger schon einen Herzinfarkt oder Schlaganfall gehabt und litten öfter an Diabetes, Herzinsuffizienz und peripherer arterieller Verschlusskrankheit (pAVK). Außerdem war ihr Charlson Comorbidity Index (CCI), der bei Patienten mit mehreren Erkrankungen das Sterberisiko über die nächsten 10n Jahre angibt, höher.
Um diese Unterschiede auszugleichen, führten die Autoren ein Propensity-Score-Matching durch, unter anderem wurden dabei Patienten mit gleichem CCI verglichen. Das Ergebnis der angepassten Analyse glich dem der primären Analyse: Inkomplett revaskularisierte Patienten hatten ein doppelt so hohes Risiko für Tod, Herzinfarkt oder erneute Revaskularisierung wie komplett revaskularisierte Patienten.
„Mit dem Matching anhand des Propensity Scores wird in Beobachtungsstudien versucht, Ungleichgewichte zwischen den Gruppen zu egalisieren. Doch nicht alle Störfaktoren, die eine Rolle spielen, sind bekannt oder messbar“, schränkt Radke die Aussagekraft dieser Analyse ein.
Akut oder stabil beeinflusst Therapiestrategie
Der Neustädter Kardiologe merkt außerdem an, dass Infarktpatienten und Patienten mit stabiler KHK in dem Patientenkollektiv nicht normalverteilt gewesen seien. Welcher dieser beiden Gruppen ein Patient angehört, könne aber beeinflussen, ob eine komplette Revaskularisierung aller Stenosen überhaupt angestrebt wird.
Bei Patienten mit akutem Herzinfarkt hat es sich in jüngst erschienenen Studien und Metaanalysen tatsächlich als sinnvoll herausgestellt, zeitnah eine komplette Revaskularisierung anzustreben. Offen ist noch die Frage, ob dies am Tag der Erstpräsentation geschehen muss, oder ob dies auch 4 bis 6 Wochen später ausreicht.
Bei Patienten mit stabilem Beschwerdebild gilt es, etwas genauer hinzuschauen: „Ob mittelgradige Stenosen (≥ 60%) bei stabiler KHK behandelt werden sollten, hängt davon ab, ob sie tatsächlich eine signifikante Ischämie erzeugen. Herausfinden lässt sich dies etwa durch die Messung der fraktionellen Flussreserve (FFR) oder eine MRT des Herzens. Es hat sich gezeigt, dass die Prognose der Patienten besser ist, wenn eine gute Selektionierung der Stenosen vorgenommen wird“, betont Radke.
„Unsere Studie zeigt, dass Patienten nach inkompletter Revaskularisation ein hohes Rezidivrisiko haben. Als beobachtende Registerstudie kann sie die Frage, ob sich die höhere Ereignisrate durch eine Therapiestrategie, die auf komplette Revaskularisierung abzielt, senken lässt, nicht beantworten“, schreiben Hambraeus und ihre Kollegen. Dies müsse nun eine randomisierte Studie zeigen.
REFERENZEN:
1. Hambraeus K, et al: J Am Coll Cardiol Intv. 2016;9(3):207-215
Diesen Artikel so zitieren: Koronare Mehrgefäßerkrankung: Müssen tatsächlich alle Stenosen beseitigt werden? - Medscape - 4. Feb 2016.
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