Berlin – Es ist ein zäher Prozess. Seit mehr als 10 Jahren entwickelt unter anderem die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ) einen bundeseinheitlichen strukturierten Medikationsplan. Längst überfällig, soll er nun im Oktober 2016 vorliegen – zunächst aber nur als ein Papier, das die Patienten mit sich führen können, um es ihren Haus- und Fachärzten und dem Apotheker vorzulegen. Das Ziel: Mögliche Wechselwirkungen der gleichzeitig eingenommenen Präparate frühzeitig zu erkennen und gegebenenfalls zu verhindern. Über den derzeitigen Stand berichtete Prof. Dr. Wolf-Dieter Ludwig, Vorsitzender der AkdÄ, auf dem Jahreskongress des Bundesverbandes Managed Care (BMC) im Januar in Berlin.

Prof. Dr. Wolf-Dieter Ludwig
Paradoxerweise regelt ausgerechnet das neue E-Health-Gesetz, Inhalt und Gebrauch des Planes. Er verzeichnet Wirkstoff, Handelsname, Stärke, Form, Dosierung, Grund für die Medikation und weitere Hinweise. Damit zeigt allerdings das Papier bereits die Struktur des späteren elektronischen Pendants. Ab 2018 soll er über die elektronische Gesundheitskarte auch digital verfügbar sein.
Ludwig ist nicht glücklich mit dem Stand der Dinge, aber auch nicht unglücklich. Er betonte immer wieder, wie wichtig die elektronische Lösung sei, damit der Plan seinen Nutzen überhaupt entfalten könne. „Darum wäre die digitale Form des Planes, die auch mit den verschiedenen Softwares bei Ärzten, Kliniken und Apothekern vereinbar wären, die deutlich bessere Lösung“, sagte Ludwig, der auch Chefarzt der Klinik für Hämatologie, Onkologie, Tumorimmunologie und Palliativmedizin am HELIOS Klinikum Berlin-Buch ist. „Zum Beispiel, um Wechselwirkungen zu erkennen. Leider sind wir da noch nicht.“
Viele Fehler bei der Medikation
Dabei ist es hohe Zeit, denn viele Patienten leiden zuerst an ihrer Krankheit und dann an der Mediation. Mehr noch. Nach Angaben Ludwigs sind etwa 3 bis 5% der nicht geplanten, internistischen Krankenhausaufnahmen verursacht durch Medikationsfehler. Etwa 20% der Medikamente seien für Senioren „potentiell inadäquat“. Mehr als 40% aller Patienten ab 65 Jahren nehmen gleichzeitig und andauernd 5 oder mehr Medikamente. Bei geriatrischen Patienten sind es im Schnitt sogar 10. Zu oft haben Ärzte, Apotheker und Pflegende den Überblick über den Arzneimittelkonsum ihrer Patienten verloren und die Patienten erst recht.
Die Gefahren der Medikation sind falsche Dosierung, falsche Einnahme, falsche Indikation oder schlicht Verwechslungen. Ein Grund für die Misere liegt zum Beispiel auch in den Leitlinien. „Viele Leitlinien sind nur auf ein Krankheitsbild ausgerichtet und berücksichtigen nicht, dass etwa ein Hochdruck-Patient auch Diabetes haben kann“, sagte Ludwig. „So werden mitunter sieben oder acht Medikamente verschrieben, ohne die Wechselwirkungen zu berücksichtigen.“
Auch leide die Medikation und damit die Patienten an der Schwelle zwischen stationärer und ambulanter Behandlung, weil dort häufig Informationsdefizite auftreten, so Ludwig. Dass mancher Arzt die Therapieziele zu strikt verfolgt, etwa bei beim Zielwert des HbA1c oder des Blutdrucks, verstärkt die Multimedikation vor allem bei älteren Patenten noch einmal.
Aus diesen Gründen „ist der Medikationsplan die Conditio sine qua non und die vorliegende Papierlösung immer noch deutlich besser als gar keine“, betonte Ludwig in Berlin.
Digitalisierung hilft
Wie effektiv eine elektronische Unterstützung der Medikation sein kann, zeigte das Referat von Prof. Dr. Walter E. Haefeli, dem Ärztlichen Direktor der Abteilung Klinische Pharmakologie und Pharmakoepidemiologie des Universitätsklinikums Heidelberg, auf dem BMC-Kongress. Die spezielle Verordnungssoftware in seinem Haus lässt nur dann die automatischen Warnmeldungen zu, wenn sie auch gebraucht werden.
„Denn viele dieser Warnhinweise bringen nichts mehr, weil die Ärzte oft schon von sich aus richtig gehandelt haben“, sagte Haefeli. „Wenn dann trotzdem die Warnhinweise erscheinen, die der Arzt schon längst beachtet hat, wird er am Schluss gar keine Hinweise mehr lesen. Wir haben durchgespielt, dass man 80 Prozent aller Warnungen vermeiden kann, wenn man die Datenbank so aufgebaut hat, dass sie auch die Dosierung eines Medikaments berücksichtigt, die Laborwerte kennt und auch das Schema der Verabreichung.“
Das System ist allerdings aufwändig. Das Klinikum beschäftige 20 Spezialisten, die stets die neuste Literatur einpflegen, um das Verordnungssystem up to date zu halten. „Es ist auch in der Software vieler anderer Häuser implementiert. So werden ungefähr 15 Prozent aller Patienten in Deutschland mit über unser System versorgt,“ berichtete Haefeli. Bei Bedarf druckt man die Verordnungseinzelheiten in Heidelberg auch auf Türkisch oder Kroatisch aus – je nachdem, woher der Patient stammt.
Von solchen Finessen ist der Medikationsplan noch weit entfernt. Eines allerdings kann auch der beste Medikationsplan nicht, selbst wenn er längst digitalisiert ist: Dem Patienten die Medikation erklären. Oder, wie Ludwig sagt: „Am Schluss geht es um Kommunikation.“
REFERENZEN:
1. BMC-Kongress, 19. bis 20. Januar 2016, Berlin
Diesen Artikel so zitieren: Der Medikationsplan kommt im Oktober – doch vorerst nur in Papierform, beklagen Experten - Medscape - 3. Feb 2016.
Kommentar