Neue Leitlinie Demenzen: Gegen den „therapeutischen Nihilismus“

Ute Eppinger

Interessenkonflikte

29. Januar 2016

In der Diagnose und Therapie der Demenz ist noch Luft nach oben: Jeder zweite Demente wird nicht als demenzkrank erkannt, noch weniger demente Patienten werden nach den medizinischen Standards behandelt, wie die AgeCoDe-Studie gezeigt hat. „Ändern lässt sich das durch weitere Aufklärung, dass Therapien möglich sind, und durch Versorgungsangebote für demente Patienten“, erklärt Prof. Dr. Frank Jessen, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum Köln und Sprecher der Leitlinienkoordination, auf Nachfrage von Medscape Deutschland.

 
Wahrscheinlich erhalten weniger als 50 Prozent der Patienten, die es eigentlich bekommen sollten, diese Mittel. Prof. Dr. Frank Jessen
 

Ein wichtiger Schritt in diese Richtung ist jetzt die 133 Seiten starke, vollständig neu überarbeitete S 3-Leitlinie „Demenzen“ [1]. Unter der Leitung von Prof. Dr. Günther Deuschl von der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) und Prof. Dr. Wolfgang Maier von der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) wurden 5 Jahre lang Empfehlungen der höchsten Qualitätsstufe S3 erarbeitet. Zugrunde liegen 418 wissenschaftliche Publikationen.

Zusätzlich sind die Erfahrungen von weiteren 21 Fachgesellschaften, Berufsverbänden und weiteren mit Demenzen befassten Organisationen mit eingeflossen. Begleitet wird die neue Leitlinie von einem Methodenreport und von Evidenztabellen, in denen auch die Veränderungen und Ergänzungen gegenüber früheren Demenz-Leitlinien dargestellt sind.

Medikamente: Die wenigen die wirken, werden noch zu selten verschrieben

In Deutschland leben etwa 1,5 Millionen Menschen mit einer Demenz, etwa 2 Drittel davon sind an Morbus Alzheimer erkrankt. Nach der letzten Erhebung des Statistischem Bundesamtes (2008) kostet die Behandlung von Demenzpatienten mehr als 9 Milliarden Euro im Jahr. Das sind rund 4% der gesamten Krankheitskosten in Deutschland. Die Behandlung einer hochgradigen Demenz kostet  bis zu 40.000 Euro pro Jahr. In der Pressemitteilung zur neuen Leitlinie forderten Experten der DGN und der DGPPN „wissenschaftlich belegte Therapieoptionen stärker zu nutzen und gleichzeitig weniger sinnvolle Maßnahmen zu unterbinden“.

„Wir haben zwar nur ein kleines Arsenal an nachweislich wirksamen Substanzen, diese können wir aber gezielt und individuell einsetzen – und die neue Leitlinie zeigt eine immer bessere wissenschaftliche Studienlage“, sagt Prof. Dr. Richard Dodel, Kommissarischer Leiter der Neurologischen Universitätsklinik in Marburg und Leitlinienexperte in einer Stellungnahme.

Die Medikamentengruppe der Acetylcholinesterase-Hemmer fördert die Fähigkeit der Patienten, ihren Alltagsaktivitäten nachzugehen, stabilisiert die kognitive Funktion und den Gesamteindruck bei einer leichten bis mittelschweren Alzheimer-Demenz. Memantin verbessert die Alltagsfunktion und den klinischen Gesamteindruck bei Patienten mit moderater bis schwerer Alzheimer-Demenz.

So wirkungsvoll Acetylcholinesterase-Hemmer sind: Sie werden noch zu selten verschrieben, bestätigt Jessen. Gegenüber Medscape Deutschland sagt er: „Wahrscheinlich erhalten weniger als 50 Prozent der Patienten, die es eigentlich bekommen sollten, diese Mittel.“ Und Maier fügt hinzu: „Gerade auch demente Patienten in Pflegeheimen erhalten diese Substanzen noch zu selten.“

 
Im Gegenzug werden Acetylcholinesterase-Hemmer und Memantin zu selten verschrieben, das ist erschreckend. Prof. Dr. Richard Dodel
 

Während es für Ginkgo biloba bei leichter bis mittelgradiger Alzheimer-Demenz oder vaskulärer Demenz Hinweise auf eine positive Wirkung gibt, sind nicht wenige Medikamente und Nahrungsergänzungsmittel, mit denen demente Patienten therapiert werden, wirkungslos. „Sie werden aber immer noch verschrieben, aus Gewohnheit, wegen gegebenenfalls guter Verträglichkeit und niedrigen Kosten“, zählt Jessen auf.

Eine Art „therapeutischer Nihilismus“

Explizit sind in der Leitlinie Substanzen aufgelistet, die in Studien keine Wirkung zeigen. So wird die Behandlung der Alzheimer-Demenz mit Vitamin E aufgrund einer ungünstigen Nutzen-Risiko-Relation nicht empfohlen. Für die Wirksamkeit von nicht-steroidalen Antiphlogistika (Rofecoxib, Naproxen, Diclofenac, Indomethacin) auf die Symptomatik der Alzheimer Demenz liegt keine überzeugende Evidenz vor. Eine Therapie mit diesen Substanzen wird nicht empfohlen.

Unzureichend ist auch die Evidenz für eine Wirksamkeit von Piracetam, Nicergolin, Hydergin, Phosphatidylcholin, Nimodipin, Cerebrolysin und Selegilin bei Alzheimer-Demenz – die Behandlung wird ebenfalls nicht empfohlen. „Zahlreiche Patienten versprechen sich von Nahrungsergänzungsmitteln – zum Teil als Fertigpräparate im Handel erhältlich – eine Besserung. Doch auch hier zeigt die Leitlinie klar, dass von ihnen keine nachgewiesene Wirkung ausgeht“, betont Dodel.

„Zahlen aus dem Arzneimittelreport 2012 zeigen, dass in Deutschland zur Therapie der Alzheimer-Demenz annähernd so viel Geld für Medikamente ausgegeben wird, die keine evidenzbasierte Wirksamkeit aufweisen, wie für wirksame Medikamente. Diese Mittel werden verschrieben. Im Gegenzug werden Acetylcholinesterase-Hemmer und Memantin zu selten verschrieben, das ist erschreckend“, sagt Dodel gegenüber Medscape Deutschland.

Es herrsche, so Dodel, eine Art „therapeutischer Nihilismus“. „Viele denken: ‚Die Alzheimer-Demenz ist nicht behandelbar‘.“ Das stimme so aber nicht: „Wir haben wirksame Medikamente, allerdings ist deren Wirkstärke nicht sehr hoch. Es gibt aber keinen Grund, Patienten diese Mittel vorzuenthalten“, betont Dodel. Er verweist auf die entsprechenden Leitlinien in Großbritannien, den USA oder Schottland: Dort vertrete man die Auffassung, dass sich Alzheimer-Demenz behandeln lasse, wirksame Medikamente würden deshalb auch deutlich häufiger verschrieben.

Psychosoziale Interventionen sind gleichrangig mit medikamentöser Therapie

„Psychosoziale Interventionen wirken so gut wie Medikamente und sind gleichrangige zentrale Bausteine im Gesamtbehandlungsplan von Demenzerkrankungen“, betont Maier, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum Bonn. „Die Wirksamkeit alltagsnaher kognitiver Stimulation, individuell angepasster Ergotherapie oder gezielter körperlicher Aktivitäten ist klar nachgewiesen“, so der Sprecher der Leitlinien Steuerungsgruppe für die DGPPN.

Die Anwendung solcher Verfahren sollte möglichst zu Hause erfolgen: Das fördere Lebensqualität, Fähigkeiten und positive Gefühle der demenziell Erkrankten und entlaste die Pflegenden. Auch für Angehörige sollten intensive Trainings durchgeführt werden. Die helfen einerseits pflegenden Familienmitgliedern Belastungsfolgen wie Depressionen oder Burnout zu vermeiden, andererseits können darüber Heimeinweisungen länger vermieden werden. „Psychosoziale Maßnahmen sind eine sinnvolle Investition, die von den Kostenträgern übernommen werden müssten, weil damit belastende Krankheitsfolgen vermieden werden“, betont Mayer.

Frühdiagnostik: Erhöhte Chance, den Krankheitsfortschritt zu bremsen?

„Es gibt wahrscheinlich Möglichkeiten, das Risiko einer Erkrankung zu mindern. Als Faustregel gilt: Was dem Herz gut tut, hilft auch dem Gehirn“, erklärt Jessen. Diabetes, Bluthochdruck und Übergewicht müssten im Auge behalten werden, um diesen Risikofaktoren frühzeitig medizinisch entgegenzuwirken. Ein gesunder Lebensstil, körperliche Bewegung und ein aktives soziales Leben helfen dabei, die Erkrankung zu bremsen. Von der Einnahme von Hormonersatzpräparaten zur Prävention von Demenz wird in der Leitlinie dagegen abgeraten.

Werden die richtigen Methoden gewählt, „können wir heute eine Alzheimer-Erkrankung mit einer Vorhersagestärke von 85 bis 90 Prozent prognostizieren“, sagt Prof. Dr. Jörg Schulz, Direktor des Neurologischen Universitätsklinikums in Aachen. Jeder Patient mit sicher diagnostizierten klinischen Vorzeichen, einer so genannten MCI (Mild Cognitive Impairment), sollte über die Möglichkeiten einer Frühdiagnostik aufgeklärt werden. Auch wenn es wissenschaftlich noch nicht eindeutig nachgewiesen sei, „gehen wir davon aus, dass frühe präventive Maßnahmen die Chance erhöhen, den Fortschritt der Erkrankung zu bremsen“, so Schulz. Bei der Früherkennung sind ausführliche Gedächtnistests zu empfehlen.

 
Es gibt Gegenden in Deutschland, da finden Patienten kaum Fachärzte, da muss ein Patient unter Umständen sechs Monate auf einen Termin warten. Prof. Dr. Wolfgang Maier
 

Wem tatsächlich die Frühdiagnose einer Demenz oder ein erhöhtes Risiko dafür attestiert wird, dem kann eine Teilnahme an Studien angeboten werden, die das Ziel haben, nicht nur die Symptome, sondern auch den Verlauf der Erkrankung zu modifizieren, also das Fortschreiten zu stoppen oder zumindest zu verlangsamen. „Damit gewinnen die Patienten möglicherweise Lebensqualität und Lebenszeit“, so Schulz.

Maier gibt zu bedenken, dass eine Demenzdiagnose – neben der „konsequenten Diagnostik nach Leitlinien“ auch eine Frage der Verfügbarkeit ist. „Es gibt Gegenden in Deutschland, da finden Patienten kaum Fachärzte, da muss ein Patient unter Umständen sechs Monate auf einen Termin warten.“ In der Versorgung, betont Maier, gebe es viele Probleme. Jessen rät: „Früher darüber reden, mit den Patienten und Angehörigen, sich trauen, die Diagnose zu stellen, sich über Therapien und Hilfen informieren, auch zum Facharzt überweisen, der Hausarzt kann aber auch ohne einen Facharzt Demenz diagnostizieren und behandeln.“

Von einem Screening (kognitive Tests, Kurztests, apparative Verfahren) bei Personen ohne Beschwerden und Symptome – einzig mit dem Ziel, eine mögliche Demenzerkrankung auszuschließen – wird aber deutlich abgeraten. Anbieter solcher Privatleistungen für Selbstzahler werden von der Leitliniengruppe als nicht seriös angesehen, so Schulz. Das Recht des Patienten auf Nichtwissen bleibe aber in jedem Fall bestehen. Entsprechend könne die Frühdiagnostik nur nach vorheriger Aufklärung durch einen ausgewiesenen Experten, mit Einwilligung des Patienten und mit der entsprechenden Betreuung nach Diagnosestellung erfolgen.

 

REFERENZEN:

1. S3-Leitlinie Demenzen, Januar 2016

 

Kommentar

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