Wer ein erhöhtes Risiko für einen Herzinfarkt hat, sollte möglichst nicht in Sachsen-Anhalt oder Thüringen wohnen. Denn dort gibt es für das ganze Bundesland nur 2, beziehungsweise 3 Chest-Pain-Units (Brustschmerz-Einheiten), also Zentren, die für die Versorgung von Herzinfarkten spezialisiert und zertifiziert sind. Zugleich ereignen sich in Sachsen-Anhalt, gemessen an der stationären Morbiditätsziffer, die meisten Herzinfarkte pro 100.000 Einwohner.
Entsprechend liegt das Bundesland auch bei der Sterbeziffer vorne: 99 Personen pro 100.000 Einwohner starben hier 2013 an Herzinfarkt. Dicht dahinter folgen die anderen 5 ostdeutschen Flächenländer und Bremen. Der Deutsche Herzbericht 2015 bestätigt damit erneut das Ost-West-Gefälle in Deutschland [1]. „Die Sterblichkeit bei Herzerkrankungen hat auch mit der Dichte der Einrichtungen zu tun“, sagt Prof. Dr. Karl-Heinz Kuck, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie- Herz- und Kreislaufforschung. Allerdings häufen sich im Osten auch nach wie vor die sozialen und medizinischen Risikofaktoren.
Sterblichkeit bei Herzklappenkrankheiten seit 1990 mehr als verdoppelt
Insgesamt hat die Sterblichkeit aufgrund von Herz-Kreislauferkrankungen in Deutschland 2013 im Vergleich zum Vorjahr minimal zugenommen, auf nun 268,9 Todesfälle pro 100.000 Einwohner (2012: 267,2 Fälle). Kuck ist dennoch zufrieden, da die Zahlen 1990 noch viel höher lagen (324,8 Fälle).
Auffällig sind aber in den letzten 23 Jahren deutliche Anstiege bei der Sterblichkeit aufgrund von Herzklappenkrankheiten (1990: 7,8; 2013: 19,7) und von Herzrhythmusstörungen (17,1 auf 32,4). Kuck sieht die Gründe hierfür nicht in der Versorgung: „Die Patienten werden vermutlich zum einen heute besser erfasst als früher, zum anderen wird die Diagnose auf den Totenscheinen auch genauer gestellt.“ Zudem steige mit zunehmendem Durchschnittsalter der Bevölkerung das Risiko für diese beiden Erkrankungen.
Im Geschlechterverhältnis bestätigt sich der Trend der vorherigen Herzberichte: Herz-Kreislauferkrankungen betreffen vor allem Männer (57,8% aller Diagnosen). Bei den Sterbeziffern bestimmter Herzerkrankungen hingegen liegen die Frauen vorn, zum Teil deutlich.
Am größten ist der Unterschied bei der Herzinsuffizienz: Daran starben 2013 72,7 Frauen/100.000 Einwohner, aber nur 40 Männer bezogen auf die gleiche Zahl von Einwohnern. „Kuck: „Dieser Unterschied ist unerwartet groß und nicht ohne weiteres erklärlich.“ Möglich sei, dass Frauen später in die Behandlung kommen, wenn sie schon älter sind und mehr Komorbiditäten aufweisen. Immerhin: Die Sterbeziffer für Herzinsuffizenz ist bei Frauen von 2012 auf 2013 rückläufig, für Männer nahezu konstant.
TAVI künftig generell auch bei Patienten mit mittlerem Risiko?
Bei den Herz-Therapien zeigt sich der Katheter-gestützte perkutane Aortenklappenersatz (TAVI) als Aufsteiger des Jahres: Er hat 2014 erstmalig die Zahl der chirurgischen Eingriffe übertroffen mit 10.299 zu 9.953 Interventionen. Beim TAVI muss nicht mehr der Brustraum geöffnet werden, die neue Herzklappe wird durch die Arterie über einen Katheter zu ihrem Bestimmungsort geschoben.
Das Verfahren wird mittlerweile auch vermehrt bei Patienten mit mittlerem Risiko bevorzugt. Die Ergebnisse seien vielversprechend, sagt Kuck. „Große randomisierte Studien prüfen derzeit, ob TAVI bei mittlerem Risiko generell empfohlen werden kann.“ Am meisten profitieren aber Patienten mit hohem Risiko: „Viele dieser Patienten konnten wir früher gar nicht operieren“, sagt Kuck, „die Hälfte starb binnen eines Jahres.“ TAVI hat ihre Prognose deutlich verbessert. „Auch, wenn diese Patienten oft über 80 sind, stehen sie noch voll im Leben.“
Mehr Prävention nötig
Mehr Prävention von Herz-Kreislauf-Erkrankungen forderte Prof. Dr. Andreas Stang, Leiter des Zentrums für Klinische Epidemiologie am Universitätsklinikum Essen. Er hat besonders die regionalen Unterschiede in Morbidität und Mortalität und den Zusammenhang mit sozioökonomischen Faktoren untersucht. „Wir haben nach wie vor eine Übersterblichkeit an Herz-Kreislauferkrankungen in den östlichen Bundesländern“, sagt der Epidemiologe, „hier muss etwas getan werden.“
Das liege allerdings nur noch begrenzt in der Hand der Medizin: „Prävention heißt auch, die Bildung der Bevölkerung hier zu verbessern.“ Zudem sei eine Veränderung von Umgebungsfaktoren notwendig, etwa ein besserer Nichtraucherschutz. Ausgerechnet Sachsen-Anhalt ist da wenig konsequent: Seit 2009 ist dort in Ein-Raum-Kneipen bis 75 Quadratmeter ohne Speiseangebot und in Raucherräumen von Diskotheken das Rauchen wieder erlaubt. Darüber hinaus dürfen Behörden und Hochschulen Raucherräume anbieten.
Zunehmende Risikofaktoren bei Kindern
Sorgen bereitet den Spezialisten auch, dass immer mehr Kinder Risikofaktoren für Herz-Kreislauferkrankungen aufweisen wie Adipositas, Diabetes und Bluthochdruck. „Die Tendenz ist durchaus erschreckend“, sagt Prof. Dr. Brigitte Stiller, Vize-Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Pädiatrische Kardiologie, „Prävention muss deshalb schon im Kindesalter beginnen.“
Genaue Zahlen zu Herzerkrankungen bei Kindern gibt es aber nicht, abgesehen von den angeborenen Herzfehlern. Diese führten 2013 nur noch in 2% der stationären Fälle zum Tod. Gegenüber 1990 ist die Sterbeziffer damit um 60% gesunken. Davon profitieren vor allem Säuglinge (unter 1 Jahr). Neu ist der Einsatz von Baby-Stents, der bereits ab 1.800 Gramm Gewicht möglich ist.
Der Deutsche Herzbericht wird jährlich von der Deutschen Herzstiftung in Zusammenarbeit mit verschiedenen Fachgesellschaften herausgegeben. Er stützt sich auf Daten aus unterschiedlichen Quellen wie dem Statistischen Bundesamt, des AQUA-Instituts für angewandte Qualitätsförderung und Forschung im Gesundheitswesen oder der Kassenärztlichen Bundesvereinigung.
REFERENZEN:
1. Deutsche Herzstiftung: Deutscher Herzbericht 2015, Dezember 2015.
Diesen Artikel so zitieren: Deutscher Herzbericht: Zum Überleben kommt es auf die Zahl der „Chest-Pain-Units“ pro Einwohner an - Medscape - 28. Jan 2016.
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