Die Deutsche Hochdruckliga/Deutsche Hypertoniegesellschaft hat Ende 2015 eine Kommission „Telemedizin“ gegründet und fordert eine bessere Einbindung in die Regelversorgung. Medscape Deutschland sprach mit Prof. Dr. Martin Middeke, Mitglied der Kommission und Leiter des Hypertoniezentrums München, über die Bedeutung langfristiger Blutdruckwerte bei Risikogruppen, problematische kommerzielle Gesundheitsapps und die Neugier von Krankenkassen.
Medscape Deutschland: Warum spielt Telemedizin bei Bluthochdruck eine besondere Rolle?

Prof. Dr. Middeke
Prof. Dr. Middeke: Telemedizin ist ja keine neue Form der Medizin, sondern bedeutet, dass wir moderne Kommunikationsmittel nutzen, um das Monitoring des Patienten und die Steuerung einer Therapie zu verbessern. Gerade beim Blutdruck macht die langfristige Übertragung von Werten aus der Häuslichkeit an den Arzt sehr viel Sinn, weil einzelne Werte in keiner Weise repräsentativ sind. Deshalb hat auch jetzt schon die Selbstmessung zu Hause einen so hohen Stellenwert. Das Problem ist dabei aber bisher, dass die Dokumentation durch den Patienten oft nicht optimal ist. Die automatische Übertragung durch Telemonitoring bringt einen Sprung in der Datenqualität.
Medscape Deutschland: Wie ist die Evidenzlage – kann es als gesichert gelten, dass der Blutdruck bei Patienten mit Telemonitoring signifikant besser eingestellt werden kann?
Prof. Dr. Middeke: Die bisherigen randomisiert kontrollierten Studien zeigen, dass die Therapietreue und auch die Blutdruckeinstellung deutlich besser sind. Wenn die Patienten wissen, dass ihre Werte auch angeschaut werden, messen sie zuverlässiger. Bisher wurden aber vor allem „normale“ Hypertoniker untersucht. Wirklich bedeutsam ist Telemonitoring bei Risikogruppen: Patienten mit schwer einstellbarem Blutdruck, nach Schlaganfall, mit komplexer Medikamentenumstellung, Herzinsuffizienz oder Schwangere. Bei diesen Gruppen ist eine optimale Therapie ohne Telemonitoring fast nicht möglich.
Medscape Deutschland: Welche Daten können noch alles an den Arzt übertragen werden, außer dem Blutdruck?
Prof. Dr. Middeke: Eine Vielzahl nützlicher Werte wie etwa die Herzfrequenz und neuerdings auch die Pulswellengeschwindigkeit als Maß für die Gefäßsteifigkeit oder der aortale Blutdruck. Das Gewicht ist natürlich auch wichtig, denn die Hälfte der Hypertoniker ist übergewichtig. Sehr hilfreich ist auch der Blutzucker zur optimalen Stoffwechseleinstellung bei Diabetikern. Im Herz-Kreislaufbereich finden die Überwachung von Defibrillatoren und Schrittmachern sowie das Monitoring von Herzrhythmusstörungen bereits zunehmende Anwendung.
Medscape Deutschland: Aber will wirklich jeder Patient, dass der Arzt gleich erfährt, wenn er über Weihnachten zugenommen hat? Oder wie wenig sein Schrittzähler heute gemessen hat?
Prof. Dr. Middeke: Es geht nicht um Überwachung, sondern um Unterstützung. Der Patient muss natürlich immer zustimmen. Die Anzahl der Schritte ist auch nicht der wichtigste Wert, den wir brauchen. Und wenn der Patient schummeln will, kann er das auch weiterhin tun. Aber es geht ja um Ziele, die er selbst erreichen möchte, zum Beispiel ein geringeres Gewicht und bessere körperliche Leistungsfähigkeit. Telemedizin muss deshalb immer eingebunden sein in ein therapeutisches Konzept. Jemanden zu überreden, funktioniert nicht – weder mit noch ohne Datenübertragung. Uns macht vielmehr Sorge, dass viele Patienten ihre Daten heute schon über kommerzielle Gesundheitsapplikationen an irgendwelche Anbieter übertragen, oft ohne dass es ihnen bewusst ist.
Medscape Deutschland: Was sind die Risiken solcher selbst gekauften Geräte?
Prof. Dr. Middeke: Bei vielen wissen wir gar nicht, wie der Blutdruck oder andere Parameter gemessen werden, ob die Werte stimmen. Dann ist die Auswertung auch meist recht dürftig, da wird gerade mal ein Mittelwert berechnet. Das wird sich vermutlich ändern. Kritisch ist aber vor allem, wenn Patienten bei der Nutzung zustimmen müssen, dass ihre Daten an den Anbieter, zum Beispiel an eine Pharmafirma, übertragen werden. Die Daten im Netz sind dann nicht mehr rückholbar. Hier ist auch die Politik aufgefordert, Regeln aufzustellen.
Medscape Deutschland: Was ist mit Systemen, die Daten an die Krankenkasse übertragen?
Prof. Dr. Middeke: Das ist für mich überhaupt nicht akzeptabel. Wenn Patienten an den Ärzten vorbei mit einer App ausgerüstet werden, das geht nicht. Es gibt sinnvolle telemedizinische Projekte von Kassen in Zusammenarbeit mit Ärzten, in Deutschland vor allem bei chronischer Herzinsuffizienz.
Medscape Deutschland: Das Interesse der Patienten ist offenbar da. Was behindert bislang die stärkere Nutzung von Telemedizin in Deutschland?
Prof. Dr. Middeke: Zum einen, dass sie nicht vergütet wird. Telemedizin muss deshalb Teil der Regelversorgung werden. Aber das wird kommen, denke ich. Viele Ärzte sind auch noch nicht von der Sinnhaftigkeit überzeugt. Daher mein Appell an die Kolleginnen und Kollegen: Sie sind gut beraten, sich mit Telemedizin zu beschäftigen, denn die Patienten werden von sich aus mit irgendwelchen Apps kommen, die eben bisher problematisch sind. Da müssen wir eine seriöse Alternative anbieten. Wir haben in Deutschland dazu sehr erfolgreiche Pilotprojekte und Studien, zum Beispiel bei chronischer Herzinsuffizienz oder bei Dialyse und anderem. Auch die Bundesländer fördern Telemedizin sehr. Klar muss aber sein, dass die Technik keinen Arzt ersetzen kann. Telemedizin ist daher nicht die Antwort auf den Landarztmangel. Sie ist auch in Großstädten notwendig.
REFERENZEN:
1. Deutsche Hochdruckliga: Telemedizin gehört in die Regelversorgung. 11. Dezember 2015
Diesen Artikel so zitieren: „Bei Risikogruppen ist eine optimale Bluthochdruck-Therapie ohne Telemonitoring fast nicht möglich“ - Medscape - 27. Jan 2016.
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