Noch immer ranken sich zahlreiche Fragen um den Tod eines gesunden Freiwilligen bei einer in Rennes durchgeführten klinischen Studie. Bial, das portugiesische Pharmazielabor, das den Wirkstoff BIA 10-2474 entwickelt hat, und das vom französischen Gesundheitsministerium anerkannte Forschungslabor Biotrial, das die Studie umsetzte, stehen nach wie vor in der Schusslinie. Waren bei diesen beiden Unternehmen „die Augen größer als der Magen“? Haben sie sich an die Regeln gehalten? Die Untersuchung hat gerade erst begonnen, doch wird von ihr bereits Antwort auf zahlreiche Fragen erwartet.
Bial wurde bereits zuvor der Korruption verdächtigt
Der pharmazeutische Hersteller Bial scheint nicht über alle Zweifel erhaben zu sein, jedenfalls laut den Schilderungen der Zeitung Le Parisien. Das 1924 gegründete „Flaggschiff der portugiesischen Pharmaindustrie“ zählt weltweit mehr als 950 Mitarbeiter und verkauft seine Medikamente in 58 Länder. Laut Reuters lag der Umsatz im Jahr 2014 bei 200 Millionen Euro. Nach dem Unglücksfall von Rennes eilte der Gesundheitsminister Portugals, Adalberto Campos Fernandes, persönlich herbei, um das Unternehmen gegen die Medien in Schutz zu nehmen.
Dennoch „laufen derzeit Ermittlungen wegen möglicher Korruption. Bial wird verdächtigt, mindestens 500 Ärzte bestochen und sie dafür bezahlt zu haben, dass sie seine Medikamente verschreiben. Im letzten Sommer gab es mehrere Hausdurchsuchungen am Firmensitz und an weiteren Orten“, so Le Parisien. Es scheinen etwa 15 Firmenangestellte und ein Beratungsunternehmen im Medizinsektor involviert zu sein.
Hat Bial die Fakten verschleiert?
Vor diesem Hintergrund ist es durchaus legitim, die Integrität von Bial zu hinterfragen, zumal das Unternehmen die besten Möglichkeiten hätte, die Tatsachen zu verfälschen. Denn innerhalb des Trios Bial – Biotrial – ANSM (Agence Nationale de Sécurité du Médicament et des produits de santé, die französische Zulassungs- und Überwachungsbehörde für Arzneimittel und andere Gesundheitsprodukte) besitzt Bial die meisten Informationen.
Daraus ergeben sich 4 Fragen, welche die laufende Untersuchung hoffentlich beantworten wird:
1. Hat Bial der französischen Arzneimittelüberwachungsbehörde ANSM alle präklinischen Daten zur Verfügung gestellt?
2. Wie haben Bial und Biotrial sich gemeinsam um die Überwachung und Analyse dieser Phase-1-Studie, die eigentlich 4 Studien umfasste, gekümmert, insbesondere um die Wahl der Dosis, die Dosiseskalation und die Abstände zwischen den Patienten, die Toleranzstufen und die verschiedenen Subanalysen?
3. Haben Bial und Biotrial dem Universitätsklinikum in Rennes, in das die Verunglückten eingeliefert wurden, alle Informationen geliefert, die für ihre Behandlung von Bedeutung waren?
4. Warum haben Bial und/oder Biotrial – die sich in dieser Sache gegenseitig den Schwarzen Peter zugeschoben – bis zum 14. Januar gewartet, bevor sie das Gesundheitsministerium von dem Vorgang in Kenntnis setzten? Und dies, obwohl der Mann, der am 10. Januar spätnachmittags in die Klinik eingeliefert worden war, bereits hirntot war und obwohl schon am 11. Januar klar war, dass 4 weitere Patienten schwere, potenziell irreversible neurologische Schäden erlitten hatten?
Voraussetzungen für die Durchführung einer Phase-1-Studie
Um die Genehmigung zur Durchführung einer Phase-1-Studie zu erhalten, also einer „First-in-Man-Studie“, muss der neue Wirkstoff bereits eine ganze Reihe pharmako-toxikologischer Tests bestanden haben. Jeglicher Antrag auf eine Phase-1-Studie muss die detaillierten Hauptergebnisse dieser präklinischen Studien sowie deren Schlussfolgerungen enthalten.
Die ANSM hat diesen Antrag im vorliegenden Fall bislang nicht veröffentlicht. Es besteht jedoch kein Zweifel daran, dass die ASNM und die IGAS (Inspection Générale des Affaires Sociales, französische Kontrollbehörde für soziale Angelegenheiten), womöglich auch die Justizbehörden, sich derzeit intensiv mit diesen Unterlagen beschäftigen.
Biotrial – eigentlich gewissenhaft, jedoch allzu ehrgeizig?
Das 1989 von seinem derzeitigen Generaldirektor, dem Pharmazeuten Jean-Marc Gandon, gegründete Unternehmen Biotrial ist das größte von 4 französischen Laboratorien, die sich auf Phase-1-Studien spezialisiert haben. Seine Kartei enthält die Kontaktdaten von 55.000 freiwilligen Testpersonen. Die Firma führt im Allgemeinen 20 bis 25 Studien gleichzeitig durch. Laut der Zeitschrift Ouest-France hat sie einen jährlichen Umsatz von 35 Millionen Euro und verdient 90% davon mit ausländischen Auftraggebern wie der portugiesischen Firma Bial. Doch selbst für ein Unternehmen wie Biotrial ist es keine Kleinigkeit, den Zuschlag für solch eine Studie zu erhalten.
Die Studie 1BIAL35 sollte mindestens 128 Personen einschließen. Die Bezahlung für eine Studie dieser Art – einschließlich der Aufwandsentschädigung für die freiwilligen Teilnehmer, die noch den geringsten Teil ausmachen dürfte – ist ausgesprochen hoch. Das Budget beinhaltet zahlreiche klinische, paraklinische und biologische Tests, Untersuchungen zur Medikamenten-Dosis und zu den Metaboliten des Wirkstoffs, alle notwendigen pharmakokinetischen und pharmakodynamischen Analysen, Berechnungen und Auswertungen und außerdem die Betriebskosten des Studienzentrums selbst.
Biotrial Inc. auf Expansionskurs
Kurz gesagt, das Budget ist beachtlich und ein solcher Vertrag ist sehr attraktiv. Dies gilt umso mehr, als die Firma gerade dabei ist, international zu expandieren. In den USA, im Science Park von Newark, New Yersey, entsteht gerade eine Niederlassung und wird wohl demnächst in Betrieb gehen. In einer Pressemitteilung von Ende 2014 war der Abschluss der Bau- und Einrichtungsarbeiten bereits für das Frühjahr 2015 angekündigt worden.
Wäre es möglich, dass Biotrial beim Lesen und Umsetzen des Studienprotokolls und bei der Interpretation der Daten vor diesem Hintergrund etwas nachlässiger als sonst vorgegangen ist? Derzeit gibt es allerdings nichts, was diese Hypothese bestätigen würde.
Der Artikel wurde von Simone Reisdorf aus Medscape.fr übersetzt und adaptiert.
Diesen Artikel so zitieren: Führte Ehrgeiz zu Leichtsinn? Die Untersuchung des Arzneitest-Unglücks in Rennes hat begonnen - Medscape - 27. Jan 2016.
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