Rein in die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln – das beschreibt die Crux bei den Empfehlungen zur Vitamin-D-Supplementation recht treffend: Kürzlich erst hatten US-Forscher herausgefunden, dass Menschen mit niedrigen Vitamin-D-Spiegeln häufiger an Stressfrakturen leiden und vor allem Sportlern zur Supplementierung geraten, wie Medscape Deutschland berichtete. Jetzt zeigt die Arbeit von Dr. Heike Bischoff-Ferrari vom Zentrum Alter und Mobilität am Universitätsspital Zürich, dass unter hochdosierter Supplementation die Sturzhäufigkeit der Probanden zunimmt [1]. Die körperlichen Leistungsfähigkeit in den Beinen verbessert sich dagegen nicht signifikant.

Prof. Dr. Matthias M. Weber
„Die Studienergebnisse sind enttäuschend. Mehr hilft keinesfalls mehr – im Gegenteil, offenbar wird die Sturzneigung durch die Gabe von hochdosiertem Vitamin D gefördert. Bis ein definitiver Beweis vorliegt, dass eine Vitamin-D-Supplementation wirklich nützt, sollten wir mit einer hochdosierten Gabe zurückhaltend sein“, erklärt Prof. Dr. Matthias M. Weber, Sprecher der Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie (DGE) und Leiter des Endokrinen und Neuroendokrinen Tumorzentrums der Universitätsmedizin Mainz im Gespräch mit Medscape Deutschland.
Hohe Dosen, mehr Stürze
In die Studie eingeschlossen waren 200 Männer und Frauen, (Durchschnittsalter 78), die in den 12 Monaten vor Studienbeginn einen Sturz erlitten hatten. 58 % der Probanden wiesen einen Vitamin-D-Mangel mit 25-Hydroxyvitamin-D-Blutwerten unter 20 ng/ml auf. Randomisiert wurden die Senioren auf 3 Studienarme: Eine Gruppe erhielt einmal monatlich die Standarddosis von 24.000 IE Vitamin D, die zweite Gruppe erhielt 60.000 IE Vitamin D und die dritte Gruppe sowohl 24.000 IE Vitamin D als auch 300 µg Calcifediol.
Primäre Endpunkte der Studie waren das Erreichen eines Vitamin-D-Spiegels von 30 ng/ml und die Verbesserung der körperlichen Leistungsfähigkeit in den Beinen, die mit dem Standardtest Short Physical Performance Battery (SPPB) bestimmt wurde. Sekundärer Endpunkt war die Zahl der Stürze im Verlauf der Studie über 12 Monate.
Unter der niedrigen Dosierung erreichten 54% der Teilnehmer die angestrebten Vitamin-D-Spiegel von 30 ng/ml oder mehr, unter der höheren Dosierung waren es 81% und unter der Kombination sogar 84%. Die gelungene Supplementation (p = 0,001) wurde aber nicht durch eine verbesserte körperliche Fitness belohnt, die Unterschiede im SPPB waren gering (p = 0,26). Tendenziell erzielte die Gruppe mit der Standardtherapie aus 24.000 IE pro Monat die besten Ergebnisse, signifikant waren die Unterschiede aber nicht.
Auch der Anteil der Senioren, die Studienverlauf mindestens einen Sturz erlitten hatten, war in der Standardgruppe mit 47,9% (Odds Ratio: 0,94; 95%-Konfidenzintervall: 35,8-60,3%) am geringsten. In der Gruppe mit monatlich 60.000 IE Vitamin lag der Anteil bei 66,9% (OR: 1,47; 95%-KI: 54,4-77,5%) in der Kombinationsgruppe bei 66,1% (OR: 1,24; 95%-KI: 53,5%-76,8%; p = 0,048).
Gesamttagesdosis von maximal 800 IU Vitamin D
Schon in ihrer Stellungnahme, die die Evidenz zur Kausalität zwischen der Vitamin-D-Versorgung und dem Auftreten chronischer Krankheiten bewertet hatte, kam die Deutsche Gesellschaft für Ernährung 2011 zu eher ernüchternden Ergebnissen. Mit Ausnahme der Prävention von Stürzen, Frakturen und Funktionseinbußen des Bewegungsapparates bei älteren Menschen wurde eine unzureichende wissenschaftliche Beweislage festgestellt und die Durchführung langfristiger Interventionsstudien gefordert.
Die Ergebnisse von Bischoff-Ferrari stellen nun auch die Sturzprävention infrage, zumindest wenn hochdosiert supplementiert wird. „Vitamin D könnte das Risiko zu fallen erhöhen“, stellt Dr. Steven R. Cummings vom California Pacific Medical Center Research Institute in San Francisco im begleitenden Editorial fest [2]. Bis dies durch weitere randomisierte Studien belegt werde, sei es umsichtig, den Empfehlungen des Institute of Medicine (IOM) zu folgen, nach denen 70-Jährige und Ältere eine Gesamttagesdosis von 800 IU Vitamin D zu sich nehmen könnten. „Es ist klug, diese empfohlene Vitamin-D-Menge und die anderer Vitamine über eine ausgewogene Ernährung aufzunehmen – also eben mit Lebensmitteln, die bereits das enthalten, was ansonsten zu Zusätzen verarbeitet wird“, betont Cummings.
Auch niedrig-dosierte Vitamin-D-Gabe sollte jetzt auf den Prüfstand
„Nach aktueller Datenlage kann eine höher dosierte Vitamin-D-Substitution älteren Menschen so keinesfalls empfohlen werden“, stellt auch Dr. Wolf Kirschner, Leiter der Abteilung Evaluation und Forschungsplanung der FB+E GmbH Forschung, Berlin, klar. Die Publikation, so Kirschner, dokumentiere die Studienergebnisse in nachvollziehbarer Weise.

Dr. Wolf Kirschner
Einige Kritikpunkte hat er allerdings schon: „Ein wesentliches Defizit des Studiendesigns besteht darin, dass eine echte Kontrollgruppe fehlt, so dass auch die recht hohen Sturzprävalenzen in den Interventionsgruppen nicht mit den Daten einer Kontrollgruppe verglichen werden können. Darüber hinaus erscheinen die Sturzprävalenzen in der Studie im Vergleich zu anderen epidemiologischen Untersuchungen als recht hoch. Schließlich wären auch die Ursachen und vor allem auch die Folgen der Stürze von hohem Interesse. Hierzu werden aber keine Aussagen getroffen.“
Die DGE, betont Weber, sei immer eher zurückhaltend gewesen hinsichtlich einer Supplementierung durch Vitamin D – vor allen Dingen im Hinblick eines möglichen Benefits, der über den muskulo-skelettalen Nutzen hinausgeht. „Nun sollten Placebo-kontrollierte Studien folgen und auch die niedrig-dosierte Vitamin-D-Gabe muss jetzt auf den Prüfstand gestellt werden“, betont Weber.
Ein Vitamin-D-Mangel werde auch bei einer ganzen Reihe von Erkrankungen gefunden – doch das gleichzeitige Auftreten bedeute keine Kausalität, betont Weber. Es gibt derzeit vielmehr keinen Beleg, dass ein gesunder Erwachsener sein Risiko für Autoimmunerkrankungen, Infektionen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Krebs durch eine regelmäßige Einnahme von Vitamin-D-Tabletten verringern kann. Eine 2014 im British Medical Journal veröffentlichte Studie zeigt, dass es trotz zahlreicher systematischer Untersuchungen und Metaanalysen keine Evidenz für den Nutzen einer präventiven Vitamin-D-Gabe gibt. Die gemeinsame Calcium-Gabe senkt das Frakturrisiko ebenfalls nicht. Auch die im selben Journal erschienene Übersichtsarbeit empfiehlt die breite Supplementation nicht.
„Die Vitamin-D-Story scheint dem vertrauten Muster zu folgen, das auch bei anderen Antioxidantien beobachtet wurde. Der Enthusiasmus über den gesundheitlichen Benefit von Vitamingaben ist gekoppelt an den Glauben, dass Vitamine von Natur aus sicher sind. Beobachtungsstudien zeigen aber in erster Linie, dass gesunde Menschen höhere Vitamin-Level haben“, schreibt Cummings.
Hausärzten rät Weber niedrig zu dosieren – „ob man dem Patienten damit etwas Gutes tut, ist die Frage“. Anders sieht es bei Krankheitsbildern wie Knochenerweichung bei Pflegebedürftigen oder Osteoporose aus: „Bei diesen Patienten ist eine Behandlung angezeigt. Doch eine breite Behandlung von Patienten einfach aufgrund von Laborwerten, die auf einen erniedrigten Serumspiegel hinweisen, das lässt sich aus der bislang vorliegenden Evidenz nicht ableiten.“
REFERENZEN:
1. Bischoff-Ferrari HA, et al: JAMA Int Med. (online) 4. Januar 2016
2. Cummings SR, et al: JAMA Int Med. (online) 4. Januar 2016
Diesen Artikel so zitieren: Zuviel des Guten? Hochdosiertes Vitamin D ist bei Älteren mit erhöhtem Sturzrisiko verbunden - Medscape - 21. Jan 2016.
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