Präventionsstrategie „test-and-PrEP-and-treat“: So ließen sich zwei Drittel der HIV-Neuinfektionen verhindern

Inge Brinkmann

Interessenkonflikte

18. Januar 2016

Bei einer speziellen HIV-Risikogruppe in den Industrienationen (Männer, die Sex mit Männern haben; MSM) sind bislang alle Bemühungen gescheitert, die Zahl der HIV-Neuinfektionen zu senken. Die Autoren einer aktuellen Analyse mit umfangreichem Datenmaterial aus den Niederlanden rechnen nun vor, wie sich eine substantielle Zahl der Neuansteckungen vermeiden ließe [1].

„66 Prozent der Infektionsfälle hätten mit verfügbaren Mitteln vermieden werden können“, so das Autorenteam um Dr. Oliver Ratmann vom Department of Infectious Disease Epidemiology am Imperial College London. Um die vorhandenen Prophylaxe-Möglichkeiten auszuschöpfen, müssten alle positiv getesteten MSM unverzüglich antivirale Medikamente einnehmen und ebenso müssten 50% der negativ getesteten Männer sie als Präexpositionsprophylaxe nehmen, schreiben sie im Fachblatt Science Translational Medicine. Eine weitere Voraussetzung ist die, dass die Hälfte aller Männer mit hohem Infektionsrisiko jährlich auf HIV getestet werden müssten.

Armin Schafberger

Lässt sich das Modell auf die Realität übertragen?

Das klingt gut – aber ist es auch realistisch? Im Gespräch mit Medscape Deutschland verweist Armin Schafberger, Mediziner und Referent für Medizin und Gesundheitspolitik bei der Deutschen AIDS-Hilfe, auf die Limitierungen solcher Analysen hin. „Modellrechnungen scheitern häufig an der Realität“, sagt er. Denn obwohl etwa kein Zweifel mehr daran besteht, dass nur eine frühe Diagnose – und damit auch der frühe Start der antiretroviralen Therapie – ernsthaften klinischen Konsequenzen einer Infektion sowie der weiteren Übertragung von HI-Viren vorbeugen kann, lassen sich bei weitem nicht alle Männer mit erhöhtem HIV-Risiko regelmäßig testen.

Schafberger verweist in dem Zusammenhang auf eine deutsche Umfrage unter 15.297 homosexuellen Männern, deren Ergebnisse im letzten Jahr im Fachjournal BMC Public Health veröffentlicht worden sind. Die von Wissenschaftlern um Dr. Ulrich Marcus vom Berliner Robert Koch-Institut durchgeführte Untersuchung hatte ergeben, dass nur 38% der Befragten einen aktuellen, d.h. vor weniger als 12 Monaten durchgeführten HIV-Test vorweisen konnten. „27 Prozent hatten sich das letzte Mal vor über einem Jahr testen lassen und 38 Prozent sogar noch nie – und das trotz jahrelanger und intensiver Aufklärungsarbeit“, sagt Schafberger. Eine jährliche Testquote von 50% aller Männer ist dementsprechend bereits als ein sehr ambitioniertes Ziel zu betrachten.

Die Effektivität der Präventionsprogramme ist eine Frage des Timings

Präventionsprogramme basieren neben der regelmäßigen Testung aber auch noch auf 2 weiteren Säulen: der Einnahme von antiretroviralen Mitteln (ART) nach positiver HIV-Diagnose sowie deren Anwendung als Präexpositionsprophylaxe (PrEP). Dass PrEP die HIV-Infektionsrate bedeutend senken kann, hat gerade erst wieder eine aktuelle britische Studie in The Lancet HIV gezeigt.

 
66 Prozent der Infektionsfälle hätten mit verfügbaren Mitteln vermieden werden können. Dr. Oliver Ratmann und Kollegen
 

Die Bedeutung, die man den einzelnen Optionen beimessen müsste, so schreiben Ratmann und seine Kollegen, hänge stark davon ab, wie viele HIV-Infektionen in welchem Krankheitsstadium übertragen würden, d.h. ob sich Überträger vor allem im akuten, undiagnostizierten Infektionsstadium befänden, bereits therapiert würden oder etwa mangelhafte Therapieadhärenz zeigten. Klassische epidemiologische Studien hätten diesen Punkt bislang nicht eindeutig klären können.

Hauptüberträger sind die Ahnungslosen

Basierend auf phylogenetischen und klinischen Daten der nationalen ATHENA-Kohorte, die Informationen von allen HIV-infizierten Patienten aus den Niederlanden enthält, gelang es den Wissenschaftlern nun, die Infektionsrouten von 617 zurückliegenden HIV-Übertragungen nachzuvollziehen bzw. bestimmte Routen auszuschließen.

Dabei stellten sie fest, dass nur die wenigsten Infektionen (6%) auf Männer mit einer diagnostizierten HIV-Infektion zurückzuführen waren, die bereits antiretrovirale Medikamente einnahmen. „Die fehlende Verringerung der Inzidenz von HIV-Infektionen unter niederländischen MSM ist nicht das Ergebnis einer ineffektiven Versorgung mit ART oder einer inadäquaten Betreuung“, konstatieren Ratmann und seine Kollegen.

Stattdessen zeigten sie, dass sich die überwiegende Zahl der Übertragungen (ca. 71%) auf Männer zurückführen ließ, die selbst noch nichts von ihrer Infektion wussten. Bei geschätzten 43% dieser HIV-Infektionen hatten sich die Überträger selbst erst vor weniger als einem Jahr angesteckt.

„test-and-PrEP-and-treat“ könnte die Neuinfektionsrate um 66% reduzieren

 
Modellrechnungen scheitern häufig an der Realität. Armin Schafberger
 

Wie dieser Ausgangslage mit häufigen frühen HIV-Übertragung am besten begegnet werden könnte, sollten weitere Berechnungen aufzeigen. Überprüft werden sollte dabei vor allem auch die neueste Empfehlung der WHO, die mittlerweile auch die PrEP für Risikogruppen miteinschließt.

Das Ergebnis: Wenn alle positiv getesteten Männer sofort mit der Einnahme von ART beginnen und jeder zweite negativ getestete schwule Mann zur Präexpositionsprophylaxe greifen würde, ließe sich die Neuinfektionsrate bereits um 30% senken. Wenn zusätzlich 50% der MSM jährlich einen HIV-Test durchführen würden, könnte sich die Zahl der Neuansteckungen sogar um 66% vermindern.

„Das Ausmaß der geschätzten Auswirkung von ‚test-and-PrEP-and-treat‘ könnte im Kampf gegen HIV unter MSM richtungsweisend sein“, halten Ratmann und seine Kollegen fest. Wie sich das in der Realität umsetzen ließe, bleibt in der Publikation allerdings weitgehend offen.

Die Rechnung weist Schwachstellen auf

Da wäre zum einen das Problem, wie die Testrate unter schwulen Männern substantiell erhöht werden könnte. Denn offensichtlich, das beschreiben auch Ratmann und seine Mitarbeiter, bestünden noch erhebliche Hürden in Bezug auf regelmäßige HIV-Tests. Pilotprojekte, in denen beispielsweise die Auswirkungen von Routinetests in Arztpraxen untersucht werden, gebe es allerdings bereits. Die Berliner Wissenschaftler um den RKI-Experten Marcus plädieren in ihrem Text dagegen u.a. für die Evaluierung von Tests, die zuhause durchgeführt und deren Ergebnisse per Telefon mitgeteilt werden könnten. Damit, so argumentieren sie, ließen sich eventuell auch Männer, die sich kaum innerhalb der schwulen Subkultur bewegten, besser erreichen.

 
Das Ausmaß der geschätzten Auswirkung von ‚test-and-PrEP-and-treat‘ könnte im Kampf gegen HIV unter MSM richtungsweisend sein. Dr. Oliver Ratmann und Kollegen
 

Schafberger macht aber noch weitere Schwachstellen in der Modellrechnung aus. So hätten etwa die Berechnungen hinsichtlich der Effektivität der PrEP auf jüngeren Studienergebnissen beruht, nach denen eine Verringerung der HIV-Neuinfektionsraten um bis zu 86% möglich sei, erklärt er. Diese ließen sich im wahren Leben (z.B. wegen mangelhafter Therapieadhärenz der außerhalb von Studiensettings weniger überwachten Personen) wahrscheinlich nicht erreichen.

Und nicht zuletzt sei die PrEP, anders als in den USA, in den meisten europäischen Ländern (einzige Ausnahme ist Frankreich) noch gar nicht zugelassen. Der europäische Zulassungsantrag werde voraussichtlich erst in diesen Wochen eingereicht. „Aber selbst nach einer Zulassung bleibt fraglich, ob die Krankenkassen die hohen Kosten von derzeit rund 820 Euro pro Monat übernehmen werden“, sagt Schafberger.

Als Lösung des Problems der stagnierenden Neuinfektionsraten darf man die Untersuchung von Ratmann und seinen Kollegen deshalb letztlich wohl nicht interpretieren. Sie zeigt aber, dass noch Vieles möglich wäre.

 

REFERENZEN:

1. Ratmann O, et al: Sci Transl Med. 2016;8(320):320ra2

 

Kommentar

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