Britische Forscher um Dena Ettehad vom George Institute for Global Health und der University of Oxford, Großbritannien, fordern eine blutdrucksenkende Medikation für alle Patienten, die ein erhöhtes Herzinfarkt- oder Schlaganfallrisiko haben. Dies als Konsequenz aus einer britischen Metaanalyse, in der 123 große randomisierte Blutdrucksenker-Studien mit mehr als 600.000 Patienten, unter anderem auch die erst kürzlich veröffentlichte SPRINT-Studie, ausgewertet worden sind. Denn die Analyse ergab, dass die Senkung des Blutdrucks vor Herzinfarkten, Schlaganfällen und anderen kardiovaskulären Ereignisses schützt – ganz unabhängig vom Ausgangsblutdruck oder kardiovaskulären Vorerkrankungen.
„Unsere Ergebnisse deuten an, dass eine Senkung des Blutdrucks auch unter die in den aktuellen Leitlinien empfohlene Schwelle, sprich einen systolischen Blutdruck von 140 mmHg, das Risiko einer kardiovaskulären Erkrankung reduziert“, schreiben Ettehad und ihre Kollegen im Lancet [1]. Da es laut der Ergebnisse der Metaanalyse keine Untergrenze für eine positive Wirkung der Blutdrucksenkung gebe, solle nicht ein absoluter Zielwert, sondern der potenzielle individuelle Nutzen der Behandlung die Therapie-Entscheidung leiten.
In den 2013 aktualisierten Leitlinien der European Society of Hypertension (ESH) ist die arterielle Hypertonie bekanntlich noch als systolischer Blutdruck ≥ 140 mmHg und/oder diastolischer Druck ≥ 90 mmHg definiert. Werte zwischen 130/85 und 139/89 mmHg gelten als hochnormal.
Reicht die Evidenz für eine Leitlinienänderung?
In einem Editorial zur Metaanalyse fragen sich Dr. Stéphane Laurent und Dr. Pierre Boutouyrie vom European Georges Pompidou Hospital in Paris, ob die bisherigen Studiendaten tatsächlich bereits ausreichen, um – wie die Autoren fordern – anstelle der absoluten Blutdruck-Zielwerte risikobasierte Zielgrößen einzuführen [2]. „Ettehad und Kollegen fordern eine dringende Überarbeitung der Leitlinien. Gibt es dafür genügend Evidenz?“, fragen sie in ihrem Kommentar.
Dass Patienten mit schwerer Hypertonie von einer medikamentösen Senkung des Blutdrucks profitieren, ist unstrittig. Wie stark jedoch der Benefit vom Ausgangsblutdruck oder vorhandenen Komorbiditäten oder auch durch die verwendeten Antihypertensiva-Klassen beeinflusst sei, sei weniger klar, bemerken Ettehad und ihre Kollegen.
Um diese Fragen zu klären, haben sie 123 große Studien zur Blutdrucksenkung in ihre Metaanalyse aufgenommen. Diese waren zwischen 1966 und 2015 veröffentlicht worden und umfassten insgesamt 613.815 Patienten. Ein Aufnahmekriterium war, dass die Studienarme jeweils mindestens 1.000 Patientenjahre Follow-up umfassen mussten. Die Autoren teilten die Teilnehmer zunächst nach ihrem Ausgangs-Blutdruck in 5 Gruppen (von <130 bis ≥160 mm Hg) und ermittelten dann die Auswirkungen einer systolischen Blutdrucksenkung um jeweils 10 mmHg.
Grundsätzlich senkte jede antihypertensive Substanzklasse das Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse, Myokardinfarkte, Schlaganfälle und Herzinsuffizienz sowie die Mortalität signifikant und proportional zum Ausmaß der Blutdrucksenkung. Jede Senkung des systolischen Blutdrucks um 10 mmHg war dabei assoziiert mit einer Abnahme
- des Risikos für kardiovaskuläre Ereignisse um etwa 20%,
- für koronare Herzkrankheit (KHK) um 17%,
- für das Risiko eines Schlaganfalls um 27%,
- des Risikos einer Herzinsuffizienz um 28%
- und der Gesamtmortalität um 13%.
Rigorose Blutdrucksenkung rettet Millionen Leben
Dieser Nutzen galt auch für multimorbide Hochrisikopatienten, die bereits kardiovaskuläre Vorerkrankungen, Herzinsuffizienz, Diabetes oder Nierenerkrankungen hatten. Zudem griff die Risikoreduzierung ebenfalls bei Patienten, deren systolischer Blutdruck zu Studienbeginn unter 130 mmHg lag. „Da eine energische Blutdrucksenkung sicher und vorteilhaft scheint, gibt es keinen Grund, diese bei Hochrisikopatienten nicht zu praktizieren“, kommentieren auch Laurent und Boutouyrie.
„Unsere Ergebnisse zeigen klar, dass eine Behandlung des Blutdrucks bis unter die aktuell empfohlenen Werte das Auftreten kardiovaskulärer Erkrankungen deutlich eindämmen und Millionen von Leben retten kann“, schreibt Studienleiter Prof. Dr. Kazem Rahimi von der University of Oxford. Die Ergebnisse bestätigten und erweiterten die Erkenntnisse aus der SPRINT-Studie, die ebenfalls zeige, dass sich die konsequente Blutdrucksenkung – auch unter die aktuellen Grenzwerte – positiv auf Erkrankungsrisiken auswirke (wie Medscape Deutschland berichtete).
„Kollektiv zeigen diese Daten, dass eine Überarbeitung der Behandlungsleitlinien zur Hypertonie, in denen erst kürzlich die Grenzwerte zur Behandlung angehoben worden sind, dringend notwendig ist“, mahnen Ettehad und ihre Kollegen.
Schutzfunktion der Substanzklassen variiert
Bezogen auf die verschiedenen antihypertensiven Wirkstoffklassen schützen alle 5 untersuchten Klassen insgesamt vor kardiovaskulären Ereignissen ähnlich gut, wie die Metaanalyse ergab. Jedoch darin, vor welchen Erkrankungen der Schutz am effektivsten ist, darin variieren die Substanzklassen signifikant, berichten die Autoren.
Bei der Prävention von Schlaganfällen erwiesen sich Kalziumkanalblocker als besonders wirksam, sie schützen aber weniger gut als andere Substanzen vor Herzinsuffizienz. Diuretika dagegen waren besonders effektiv im Schutz vor einer Herzinsuffizienz. Betablocker schnitten im Vergleich zu anderen Antihypertensiva weniger gut bei allgemein schweren kardiovaskulären Ereignissen, Schlaganfällen, Niereninsuffizienz und Gesamtmortalität ab.
Da jedoch immer mehr Patienten eine Kombinationstherapie benötigen, sei das Finden einer „optimalen Kombination von Substanzen künftig eher klinisch relevant als eine Untersuchung der Effektivität einzelner Präparate“, so die Autoren der Metaanalyse.
REFERENZEN:
1. Ettehad D, et al: Lancet (online) 23. Dezember 2015
2. Laurent S, et al: Lancet (online) 23. Dezember 2015
Diesen Artikel so zitieren: Metaanalyse bestätigt: Blutdrucksenkung lohnt auch unterhalb der bisher gültigen Grenzwerte - Medscape - 12. Jan 2016.
Kommentar