Wer braucht ein Statin zur Primärprävention? Schwierige Entscheidung trotz zahlreicher Scores

Nadine Eckert

Interessenkonflikte

23. Dezember 2015

Prof. Dr. Norbert Donner-Banzhoff

Mit Statinen lassen sich kardiovaskuläre Ereignisse verhindern. Optimalerweise geschieht dies schon primärpräventiv. Aber wie identifiziert man Kandidaten für eine Primärprävention mit Statinen? „Seit die US-Fachgesellschaften ACC/AHA 2013 ihre neue Cholesterin-Leitlinie herausgegeben haben, ist vieles wieder offen, was vorher wie einbetoniert erschien“, sagt Prof. Dr. Norbert Donner-Banzhoff vom Präsidium der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin (DEGAM) im Gespräch mit Medscape Deutschland (wie Medscape Deutschland berichtete).

Weitgehend Einigkeit herrscht darüber, dass vor der Therapieentscheidung eine Abschätzung des künftigen kardiovaskulären Gesamtrisikos stehen sollte. Eine neue Studie aus Dänemark, die verschiedene Instrumente zur Entscheidungsfindung für oder gegen eine Statintherapie vergleicht, unterstützt diese Vorgehensweise [1].

Das eigentliche Ziel des Kardiologen Dr. Martin B. Mortensen von derForschungseinheit Atherosklerose am Universitätsklinikum Aarhus, Dänemark, und seiner Kollegen war herauszufinden, ob 2 kürzlich publizierte alternative Ansätze der von ACC/AHA empfohlenen Vorgehensweise überlegen sind.

Risikoabschätzung: PCEs, RCTs und ein Hybrid

Die US-Leitlinie verwendet zur Risikoabschätzung die sogenannten Pooled Cohort Equations (PCEs). Dabei handelt es sich um einen Risikorechner, der auf Daten aus sorgfältig ausgewählten, aber schon recht alten Kohortenstudien basiert. Die Therapieschwelle liegt laut den US-Empfehlungen bei einem 10-Jahres-Risiko für ein atherosklerotisches kardiovaskuläres Ereignis von 7,5%.

Allerdings wurde in verschiedenen Untersuchungen demonstriert, dass der auf PCEs basierende Risikorechner „das kardiovaskuläre Risiko in vielen modernen Kohorten systematisch überschätzt, was zu einer Übertherapie mit Statinen führen könnte“, erklären die Autoren um Mortensen im Journal of the American College of Cardiology.

2013 schlugen Dr. Paul Ridker vom Brigham and Women’s Hospital, Boston, und Kollegen deshalb eine alternative Strategie zur Risikoabschätzung vor, die auf den Einschlusskriterien von 6 großen, randomisiert-kontrollierten Primärpräventionsstudien (RCTs) basieren. Eine Therapie mit Statinen sollte diesem Ansatz zufolge denjenigen Patienten angeboten werden, für die diese RCTs die Wirksamkeit von Statinen unterstützen. Eine individuelle Risikoabschätzung findet nicht statt.

 
Seit die US-Fachgesellschaften ACC/AHA 2013 ihre neue Cholesterin-Leitlinie herausgegeben haben, ist vieles wieder offen, was vorher wie einbetoniert erschien. Prof. Dr. Norbert Donner-Banzhoff
 

Ein Jahr später, 2014, publizierte die Arbeitsgruppe um Ridker einen weiteren Vorschlag: einen Hybdridansatz, der die Risikoeinschätzung nach ACC/AHA mit der RCT-basierten Strategie kombiniert. Kandidaten für eine Statintherapie sind demnach Personen mit einem 10-Jahres-Risiko über 7,5% und RCT-basierter Evidenz für einen Benefit.

Mortensen und Kollegen wendeten die 3 Risikoinstrumente auf eine zeitgenössische Population von Patienten an, die Teilnehmer der Copenhagen General Population Study (37.892 Teilnehmer, 40-75 Jahre alt, bei Studieneinschluss ohne kardiovaskuläre Erkrankung, Diabetes oder Statintherapie). Bei 834 Teilnehmern kam es im Follow-up (182.641 Personenjahre) zu einem kardiovaskulären Ereignis, bei 323 dieser Ereignisse handelte es sich um Herzinfarkte.

Bei Anwendung des RCT-basierten Ansatzes von Ridker et al. waren signifikant mehr Studienteilnehmer Kandidaten für eine Statintherapie als nach dem ACC/AHA-Ansatz (56 vs. 42%). Der Hybdridansatz von Riker et al. reduzierte im Vergleich zu den beiden anderen Strategien die Zahl der Kandidaten für eine Statintherapie substanziell auf 21%.

Entsprechend betrug unter den Kandidaten für eine Statintherapie die kardiovaskuläre Ereignisrate pro 1.000 Personenjahren 9,8 für den ACC/AHA-Ansatz, 6,8 für den RCT-basierten Ansatz und 11,2 für den Hybridansatz. Letzterer konnte also am spezifischsten die Risikofälle identifizieren. Insgesamt lag bei den Testgüte-Kriterien der ACC/AHA-Ansatz im Vergleich vorn.

ACC/AHA-Ansatz verhindert mehr Ereignisse

„Der ACC/AHA-Risiko-Score überschätzte des 10-Jahres-Risiko bei Teilnehmern mit relativ hohem Risiko (über 10%), war aber um die 7,5%-Therapieschwelle herum ziemlich gut kalibriert, mit Raten von prognostiziertem zu beobachtetem Risiko von 1,1 bis 1,2“, berichten die Autoren um Mortensen.
Was mit der Risikoabschätzung nach ACC/AHA besser gelang als mit den beiden anderen Strategien war die Unterscheidung zwischen Fallpatienten (Erkrankung im Follow-up) und Nicht-Fallpatienten (keine Erkrankung im Follow-up).

Die Autoren schlussfolgern, dass „die in der Leitlinie empfohlene Strategie zur Risikoabschätzung mehr kardiovaskuläre Ereignisse verhindert als die beiden anderen Ansätze, und dass dafür im Vergleich zum RCT-basierten Ansatz weniger Personen mit Statinen behandelt werden müssen“.

 
Letztlich haben alle Instrumente, auch bedingt durch den langen Prognosezeitraum von zehn Jahren, immer nur eine begrenzte Aussagekraft. Prof. Dr. Norbert Donner-Banzhoff
 

„Dass wir heute mithilfe der verschiedenen Risikoprädiktionsinstrumente das Konzert der verschiedenen kardiovaskulären Risikofaktoren miteinander berücksichtigen und uns nicht mehr nur auf das Cholesterin fokussieren, ist einer der wichtigsten Fortschritte der letzten 15 Jahre“, sagt dazu Donner-Banzhoff.

Alle Instrumente mit begrenzter Aussagekraft

Welches Instrument für die Risikoprognose herangezogen werden soll, sei schon immer viel und kontrovers diskutiert worden, ergänzt der Professor an der Abteilung für Allgemeinmedizin, Präventive und Rehabilitative Medizin des Universitätsklinikums Marburg. In Deutschland spielten die in der US-Leitlinie verwendeten PCEs beispielsweise kaum eine Rolle, ebenso wenig wie die neuen Vorschläge von Ridker et al. Die hierzulande verbreitetesten Risikoscores seien Framingham (modifiziert z. B. in Form des Risiko-Rechners arriba), PROCAM und SCORE.

„Letztlich haben alle Instrumente, auch bedingt durch den langen Prognosezeitraum von zehn Jahren, immer nur eine begrenzte Aussagekraft“, betont Donner-Banzhoff. Die aktuelle Untersuchung von Mortensen und Kollegen zeigt dies anschaulich: Trotz Anwendung von 3 verschiedenen Risikoinstrumenten gab es immerhin 8% Patienten, die ein Ereignis hatten, aber von keinem der Risikoscores erfasst wurden.

„Richtig gut ist keines der zur Verfügung stehenden Instrumente, aber irgendwie müssen wir eine Demarkationslinie ziehen zwischen denjenigen, die ein Statin bekommen sollten, und denjenigen, die keines brauchen. Und dafür brauchen wir ein Instrument“, sagte Donner-Banzhoff.

Letztlich zählt das Gespräch mit dem Patienten

 
Dass 93 Patienten Statine einnehmen, ohne etwas davon zu haben, mag für den Patienten gegen die Einnahme sprechen. Prof. Dr. Norbert Donner-Banzhoff
 

Für die Auswahl des am besten geeigneten Risikoscores spielt neben der epidemiologischen Validität ein weiterer wichtiger Aspekt eine Rolle: „Das Instrument sollte ermöglichen, den Patienten anschaulich und verständlich zu informieren, damit er eine Entscheidung treffen kann.“ Die Risikostratifizierung ist die Basis, danach folgt das Arzt-Patienten-Gespräch und die gemeinsame Entscheidungsfindung, heißt es in den einschlägigen Leitlinien. Und damit der Patient eine Entscheidung (mit)treffen kann, muss er genau verstehen, was zum Beispiel ein 10-Jahres-Risiko von unter oder über 7,5% bedeutet.

Donner-Banzhoff verweist in diesem Zusammenhang auf den unter anderem an der Universität Marburg entwickelten arriba-Risikorechner, der die Wahrscheinlichkeit, einen Herzinfarkt oder Schlaganfall zu erleiden, optisch darstellt (wie Medscape Deutschland berichtete).

„Dass 7 von 100 Patienten, die Statine einnehmen, davon profitieren, mag aus medizinischer Sicht für die primärpräventive Einnahme sprechen“, sagt Donner-Banzhoff. „Dass 93 Patienten Statine einnehmen, ohne etwas davon zu haben, mag für den Patienten gegen die Einnahme sprechen. Die Vorgaben in den Leitlinien passen nicht immer mit den Wertvorstellungen des Patienten zusammen.“

 

REFERENZEN:

1. Mortensen MB, et al: J Am Coll Cardiol. 2015;66(24):2699-2709.

Kommentar

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