Berlin – Enge Besiedelung, Lärm, soziale Ungleichheit, Hektik, Isolation – für Stadtbewohner ist dies Alltag, die Verarbeitung von Stress sollte kein Problem für sie sein, meint man. Aber weit gefehlt. Beim DGPPN-Kongress wurde deutlich: Gerade die Einwohner von Großstädten reagieren empfindlich auf sozialen Stress und zeigen veränderte, weniger funktionale Verarbeitungsmuster im Gehirn als Landbewohner [1].
Mehr Stadt- als Landbewohner
Vor wenigen Jahren „kippte“, weltweit betrachtet, das Verhältnis: Seitdem leben mehr Menschen in Städten als im ländlichen Raum. Im Zusammenhang mit den entstehenden Ballungsräumen und Mega-Citys ist immer öfter nicht nur von Urbanisierung (Verstädterung), sondern auch von Urbanizität (engl: Urbanicity) die Rede.

PD Dr. Mazda Adli
„Urbanizität – man könnte auch ‚Stadtleben‘ sagen – bezeichnet das Maß, in dem jemand im Laufe seines Lebens den Einflüssen der Stadt ausgesetzt ist“, erläutert im Gespräch mit Medscape Deutschland PD Dr. Mazda Adli, Chefarzt der Fliedner-Klinik, Ambulanz und Tagesklinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, Berlin. Besonders bedeutsam seien dabei die ersten 15 Lebensjahre.
Urban advantages vs. Sozialstress
Das Leben in der Stadt hat zum einen viele Vorteile, es ist laut Adli „für die meisten von uns mit viel Segen verbunden. Wir finden Möglichkeiten für persönliche Entfaltung, Entwicklung und Wohlstand; es gibt kulturelle Angebote, Bildung und wohnortnahe Versorgung.“ Wer Zugang zu diesen „urban advantages“ hat, dem gehe es gut, auch psychisch.
Sozialer Stress entsteht erst durch die gleichzeitige und anhaltende Einwirkung von sozialer Dichte und sozialer Isolation. Im Gespräch mit Medscape Deutschland nannte er ein Beispiel: „Wer in einem engen Sozialbau mit dünnen Wänden lebt, ständig die Fernsehprogramme der Nachbarn mithören muss, ohne diese aber persönlich zu kennen, der erlebt soziale Dichte und Isolation zugleich.“ Kann man diesem Zustand nicht entfliehen, wird der soziale Stress chronisch.
Trifft solcher Sozialstress nun einen Menschen, der dafür sensibel ist, etwa jemanden mit vulnerabler genetischer Disposition, kann es zu psychischen Erkrankungen kommen – ihre Prävalenz ist in Großstädten nicht von ungefähr erhöht.
Schizophrenie und Depressionen in der Stadt vermehrt
Prof. Dr. Florian Lederbogen, Oberarzt an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit, Mannheim, zitierte dazu eine populationsbasierte Studie aus Schweden und eine Metaanalyse aus den Niederlanden. Demnach ist das Risiko psychischer Erkrankungen in Städten um relative 40% erhöht. Dabei fällt besonders das um 70% gesteigerte Schizophrenie-Risiko auf. Aber auch Depressionen (+ 40%), Sucht und Substanzmissbrauch (+ 30%) und Angsterkrankungen (+ 20%) kommen bei Stadtbewohnern deutlich häufiger vor.
Amygdala nur bei Stadtbewohnern in Alarmbereitschaft
In einer eigene Studie hat Lederbogen Stadt- und Landbewohner in einer Versuchsanordnung aus Rechenaufgaben mit Zeitlimit bewusst überfordert. Zudem bekamen sie abwertende Kommentare zu hören. Eine solche „motivierte Performance mit sozial-evaluativer Bedrohung und Unkontrollierbarkeit“ ähnelt dem, was wir in konfliktreichen nachbarschaftlichen Beziehungen in Großstädten erleben.
Unmittelbar nach dem Mathetest wurden die Probanden mittels funktioneller Magnetresonanztomografie (fMRT) untersucht. „Bei Großstadtbewohnern – und nur bei ihnen – war die rechte Amygdala besonders aktiv“, so Lederbogen. Zudem zeigten Probanden, die schon ihre Jugend in der Großstadt verbracht hatten, Veränderungen am perigenualen anterioren Cingula-Cortex. Abseits der Stresssituation waren keine Unterschiede in der Amygdala von Stadt- und Landbewohnern zu sehen, und alle anderen Hirnstrukturen waren unbeeinträchtigt.
„Die in der Studie auffällig aktiven Hirnstrukturen spielen eine zentrale Rolle bei der Verarbeitung von psychosozialem Stress, in der Steuerung stress-responsiver Systeme und bei der Entstehung von Schizophrenie, Depressionen und Angsterkrankungen“, betonte Lederbogen.
In einer derzeit laufenden Nachfolgestudie wird nicht nur der Wohnort, sondern der genaue Aufenthaltsort der Probanden zeitlich und räumlich hoch aufgelöst festgehalten. Das geschieht mit Hilfe von Smartphones mit Geotracker und integriertem „Tagebuch des Wohlbefindens.“ Lederbogen betonte: „Damit können wir alle Stressoren – wie Wohnraumdichte, Lärm, Nähe zu Grünflächen, sozialer Gradient und anderes – noch besser erfassen und gewichten.“
Arm ist nicht sexy, sondern depressionsfördernd
Sozialstress kann aber keineswegs nur durch eigenes niedriges Einkommen und fehlende Teilhabe entstehen. Auch Armut in der Nachbarschaft fördert psychische Störungen. Prof. Dr. Michael Rapp, Sozial- und Präventivmediziner an der Universität Potsdam, stellte dazu 2 Studien vor.
So wurden in einer populationsbasierten prospektiven Kohortenstudie in New York City 1.120 Erwachsene telefonisch nach ihrem seelischen Befinden befragt, dies wurde nach 6 und 18 Monaten wiederholt. Von 820 Probanden, die anfangs noch keine Major Depression hatten, entwickelten in den ersten 6 Monaten 12,2% und in der gesamten Zeit 14,6% eine Depression.
Der Anteil unterschied sich deutlich in Stadtteilen mit niedrigem (19,4%) vs. hohem sozioökonomischem Status (10,5%). Die Zugehörigkeit zu einem „armen“ Wohnviertel war – ebenso wie persönlicher Geldmangel – mit einem 2,2-fach erhöhten Depressionsrisiko verbunden.
In einer anderen US-amerikanischen Studie, der Moving to Opportunity (MTO) for Fair Housing Demonstration, wurde einigen alleinerziehenden Müttern der Umzug in eine sozial bessergestellte Gegend angeboten, anderen nicht. Bei der Auswertung nach 10 bis 15 Jahren hatte sich das Einkommen der Familien in keiner Gruppe wesentlich erhöht. Die Familien, die umgezogen waren, hatten aber ein signifikant höheres Wohlbefinden, und ihre seelische und körperliche Gesundheit war tendenziell besser.
Migranten besonders anfällig für „Stress in the City“
In einer eigenen Studie haben Rapp und seine Kollegen diese Beobachtung bestätigt. Sie analysierten das gesundheitliche, psychische und soziale Wohlbefinden von Personen, die entweder in Berlin „Alt-Mitte“ lebten oder aber in Wedding und Tiergarten. Für die Studie wurden die 3 Stadtteile in 11 Viertel (Lebensorientierungsräume) aufgeteilt, deren Bewohner sich in Alter, Bildungsgrad und im Anteil derjenigen mit Migrationshintergrund oder mit Arbeitslosengeld II (ALG-II, „Hartz IV“) unterschieden.
Erfasst wurden somatische Störungen, Angst- und Schlafstörungen, soziale Dysfunktion und schwere Depression mit Hilfe des General Health Questionnaire 28 (GHQ-28, 0 bis 84 Punkte, höhere Punktwerte = schlechterer Gesundheitsstatus).
Der Befund im GHQ-28 wurde durch Geschlecht und Bildung kaum beeinflusst. Dagegen spielten Alter (+1 Punkt pro Lebensdekade), individuelles Einkommen (+1,5 Punkte je 100 Euro geringeres Einkommen) und Migrationsstatus (ja: +3,5 Punkte) durchaus eine Rolle. Sie waren signifikant mit einem schlechteren sozialen Wohlbefinden assoziiert (jeweils p<0,05).
Den größten Einfluss hatte aber die „kollektive Armut“ im Viertel: Menschen in Gegenden mit hohem Anteil an ALG-II-Empfängern hatten hochsignifikant schlechtere Befunde im GHQ-28 (+11% je 10% mehr ALG-II-Empfänger; p<0,001). Am meisten waren von der „Armut im Kiez“ Menschen mit Migrationshintergrund belastet; eine schlüssige Erklärung gibt es dafür noch nicht.
Prävention: Freiräume lassen, Aneignung fördern, vernetzen
„Wir müssen die interindividuellen Unterschiede in der Stressvulnerabilität noch weiter erforschen und High-Risk-Populationen identifizieren“, forderte Adli. Dazu gehörten jedenfalls Ältere und Migranten. Genauer erforscht werden sollen zudem die Arten und Intensitäten von Stadtstress.
Auf der persönlichen Ebene wirkt die Ausstattung mit sogenannten „Großstadt-Skills“ präventiv, wie Neugier, Kommunikationsbereitschaft und Technikaffinität, erklärte Adli gegenüber Medscape Deutschland und ergänzte: „Wichtig ist es, dass man sich in der Stadt gut mit Gleichgesinnten verknüpft und dass man möglichst viel Zeit gemeinsam im Freien verbringt. Die alters- und kultursensible Stimulation beginnt vor der Haustür.“
Dafür sei eine Stadtplanung notwendig, die Freiraum für Begegnungen und eigenes Gestalten lässt, etwa in Straßen mit breiten Fußwegen, Baumalleen und Parks mit vielen Bänken. Aber auch Baubrachen, die die Bewohner nach eigenem Gutdünken – etwa mit Bauwagen oder Gartenmöbeln – ausgestalten können, gehören dazu.
„Fragmentierung und Segregation in den Städten sind ungünstig für die psychische Gesundheit. Stattdessen sollte man den Bewohnern Gelegenheit geben, die begonnene Stadtplanung selbst zu Ende zu bringen“, so Adli. Dann gebe es „less Stress in the City“.
REFERENZEN:
Diesen Artikel so zitieren: Sozialstress schlägt Großstädtern auf die Psyche - Medscape - 22. Dez 2015.
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