
Dr. Heribert Fleischmann
Berlin – Jeder vierte Deutsche zwischen 18 und 64 Jahren hat Erfahrungen mit Cannabis – und darin ist die Flower-Power-Generation (weil schon älter) gar nicht mehr enthalten. Jeder achte hat allein im letzten Jahr Cannabis konsumiert, so das Ergebnis einer epidemiologischen Studie, die beim DGPPN-Kongress vorgestellt worden ist [1].
Die Experten sind geteilter Meinung, was mit solchen Zahlen anzufangen ist. So wird vor gesundheitlichen Gefahren gewarnt, es gibt aber auch Forderungen nach kontrollierter legaler Abgabe, da die Prohibition nicht wünschenswert funktioniert. In einem Punkt sind sich jedoch alle einig: Cannabis ist schädlich für Jugendliche. Und gerade sie sind die Gruppe mit dem größten Konsum. Die DGPPN bezog kürzlich in einem Positionspapier Stellung zu diesem Thema.
Medscape Deutschland sprach mit Prof. Dr. Ursula Havemann-Reinecke, Oberärztin an der Psychiatrie der Universitätsmedizin Göttingen und Vorsitzende des Referats Sucht der DGPPN, sowie mit Dr. Heribert Fleischmann, Störnstein, Nervenarzt, Ärztlicher Direktor am Bezirksklinikum Wöllershof, stellvertretender Vorsitzender des Referats Sucht der DGPPN und Vorsitzender der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (DHS).
Konsumentenzahl in Deutschland stabil
„Nach einem hohen Anstieg kurz nach dem Jahrtausendwechsel haben wir in Deutschland derzeit einen stabilen Cannabiskonsum“, erklärte Diplompsychologin Dr. Eva Hoch, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Ludwig-Maximilians-Universität, München, in ihrem Vortrag beim Symposium „Aktuelle Aspekte des Cannabiskonsums“. Der Erstkontakt findet meist mit etwa 15 Jahren statt. Dies zeigen Daten aus dem „Jahrbuch Sucht“ 2014 der DHS.
Die aktuellen Zahlen der europäischen Drogenbeobachtungsstelle in Lissabon nennen eine Einjahresprävalenz von etwa 5,7% für den Cannabis-Konsum für 15- bis 64-Jährige in Europa. Mehr als jeder 5. von ihnen konsumiert Cannabis „täglich oder fast täglich“.
Im Epidemiologischen Suchtsurvey 2012 geht man von einer Zwölfmonatsprävalenz von 4,5% aus und sieht die Zahl der Cannabisabhängigen bei 0,5%. Das passt zu den im DGPPN-Positionspapier genannten Zahlen. Dort ist zu lesen: „Jeder 10. Cannabiskonsument entwickelt eine behandlungsbedürftige Abhängigkeitserkrankung.“ Dazu kommen laut Survey noch weitere 0,5% mit „schädlichem Gebrauch“.
„Über die Lebenszeit gesehen, entwickeln insgesamt etwa neun Prozent aller Cannabiskonsumenten eine Cannabisabhängigkeit“, so Hoch gegenüber Medscape Deutschland. „Diese Rate beträgt 17 Prozent, wenn der Cannabiskonsum in der Adoleszenz beginnt, und 25 bis 50 Prozent, wenn Cannabinoide täglich gebraucht werden.“
Verdoppeltes Psychoserisiko bei häufigem Cannabiskonsum
Intensiver Cannabiskonsum kann mit einer Vielzahl von psychosozialen Problemen einhergehen.Das Spektrum reicht von Konzentrationsstörungen und Motivationsproblemen über gesteigerte Schulabbrecherraten und längere Jobfehlzeiten hin zu mehr Arbeitslosigkeit.
Dazu kommt ein verdoppeltes Psychoserisiko bei häufigem Cannabiskonsum. Neben Psychosen finden sich auch affektive, somatoforme oder Angststörungen, Alkohol- oder andere substanzbezogene Störungen und ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung). Ob der Cannabiskonsum dabei ursächlich ist oder eher als Selbstmedikation eingesetzt wird, ist allerdings noch unklar. Cannabis sei jedenfalls die Ursache Nummer 1 für eine erstmalige Suchtbehandlung in der EU, so Hoch.
Cannabis als legale Freizeitdroge?
Fleischmann betont demgegenüber in seinem Vortrag während des Symposiums den gesellschaftlich-sozialen Aspekt der Entkriminalisierung illegalen Drogenkonsums und der Teilhabe der nicht kranken „Freizeitkonsumenten“ am gesellschaftlichen Leben. Er erhofft sich Lösungen von der zügigen Einsetzung einer Enquêtekommission zur Prüfung der Auswirkungen einer kontrollierten Abgabe.
„Die Suchtbekämpfung basiert auf vier Säulen: Prävention, Beratung und Behandlung, Schadensminimierung sowie Repression“, so Fleischmann. „Die vierte Säule zielt darauf, das Angebot zu unterbinden und die Nachfrage zu minimieren, beides durch Bestrafung.“ Dies habe aber nicht zu dem erwünschten starken Rückgang des Cannabiskonsums geführt. Deshalb sei es an der Zeit, über eine staatlich kontrollierte Abgabe von Cannabis als Freizeitdroge – nicht nur für medizinische Zwecke – nachzudenken, so Fleischmann im Gespräch mit Medscape Deutschland.
Dass Cannabis eine gefährliche, potenziell schädliche und zudem verzichtbare Droge ist, steht auch für Fleischmann außer Frage. „Trotzdem wird es konsumiert“, stellt er klar und betont: „Nicht jeder, der kifft, ist auch krank.“ Bei der Mehrzahl der Konsumenten seien weder Abhängigkeit noch psychiatrische Erkrankungen zu finden. Das Konsummuster von Cannabis ähnle eher dem von Alkohol oder Tabak, und das Gefährdungspotenzial sei bei Alkohol und Tabak deutlich größer als bei Cannabis, worauf auch die DG-Sucht in ihrem Papier hinweist.
Vom Konsum fernhalten müsse man allerdings Jugendliche: „Ihr Gehirn ist noch nicht ausgereift, ist es suszeptibel für Schäden durch jede Droge“, so Fleischmann. „Im Zuge einer regulierten Abgabe von Cannabis müsste man über den Jugendschutz nicht nur bei Cannabis, sondern auch bei Tabak und Alkohol noch einmal ganz neu nachdenken.“
Kriminalisierung von Cannabiskonsum verhindert Teilhabe
Wichtig sei es, Cannabisnutzer nicht zu kriminalisieren und sie nicht von der Teilhabe am beruflichen und sozialen Leben auszuschließen: „Wer wegen Cannabisbesitzes ein Fahrverbot erhält und nachweisen muss, dass er nicht abhängig ist, steht oftmals vor großen Problemen“, so Fleischmann. „Und wer wegen Cannabiserwerbs eine Vorstrafe und nachfolgend berufliche Probleme bekommt, wird in soziales Scheitern hineingetrieben.“ Etwa 80% der Rauschgiftdelikte in Deutschland sind „konsumnahe Delikte“, und deren Löwenanteil betrifft den Cannabisgebrauch.
Die von Fleischmann in Betracht gezogene Regulierung von Cannabis als Freizeitdroge wirft indes zahlreiche Fragen auf: „Auf keinen Fall darf die Abgabe über den freien Markt erfolgen“, räumt er ein, „aber auch nicht über Ärzte und Apotheken, das kann man keinem der Beteiligten zumuten. Der Markt muss streng unter staatlicher Kontrolle sein.“
Zwölf Aufgaben für eine „Enquêtekommission Cannabis“
Hier sei noch sehr viel Arbeit zu tun, so Fleischmann. Die DHS forderte vor einiger Zeit von der Bundesregierung, noch in dieser Legislaturperiode eine Enquêtekommission einzusetzen. Fleischmann nannte 12 Aufgaben, die diese zu erfüllen hätte; hier eine Kurzfassung:
1. Cannabiskonsum ist weit verbreitet – Perspektive auf Freizeitkonsumenten erweitern.
2. Cannabis wirft viele Fragen auf – Konsens in der Bevölkerung herstellen.
3. Ob die geltenden Bestimmungen wirken, ist nicht belegt – einheitlichen Maßstab finden.
4. Kriminalprävention widerspricht derzeit den Zielen der Gesundheitsprävention – Zielkonflikt auflösen.
5. Cannabisschwarzmarkt birgt erhebliche Produktunsicherheiten – Verbraucherschutz ermöglichen.
6. Die derzeitige Rechtslage führt zu hohen Kosten – Wirtschaftlichkeit prüfen.
7. Wirksame Cannabisprävention sollte verhältnis- und verhaltenspräventive Maßnahmen umfassen – Prävention priorisieren.
8. Bei einer Neufassung der Gesetze ist der Jugendschutz zu gewährleisten –Altersbeschränkung, Werbeverbote und Sanktionierungen definieren.
9. Die derzeitige Cannabispolitik behindert in Ausbildung, Beruf und Mobilität – Teilhabe sicherstellen.
10. Es besteht dringend weiterer Forschungsbedarf – beteiligte Disziplinen benennen.
11. Nationale und internationale Suchtpolitik beeinflussen sich gegenseitig – potenzielle Auswirkungen untersuchen.
12. Im „Cannabis-Urteil“ von 1994 wurde gefordert, die präventive Wirkung des Betäubungsmittelgesetzes zu evaluieren – dies muss endlich in die Tat umgesetzt werden.
Eine umfassende To-do-Liste – oder ein langer Wunschzettel –, der alle Beteiligten vor große Herausforderungen stellt. Sicherlich wird es nicht einfach, die von der DHS angestrebte Entkriminalisierung und die medizinisch wünschenswerte Prävention des Cannabiskonsums unter einen Hut zu bekommen.
Vorbild USA? Wohl eher nicht …
Havemann-Reinecke beschrieb im Rahmen ihres Vortrags vor allem die – meist ungünstigen – pharmakologischen Effekte von Cannabis im menschlichen Hirn. Einer Freigabe von Cannabis als Freizeitdroge steht sie kritisch gegenüber, wie sie gegenüber Medscape Deutschland erklärte – auch weil dies jungen Menschen ein falsches Signal in Richtung Unbedenklichkeit von Cannabis geben würde.
„Aktuelle Daten zu dem für medizinische Zwecke legalisierten Cannabiskonsum in 21 US-amerikanischen Bundesstaaten zeigen, dass der Verbrauch bei Jugendlichen von 13 bis 18 Jahren in diesen Bundesstaaten höher ist als in den übrigen“, so die Expertin. Die Untersuchungen zeigen aber auch, dass die Höhe des Cannabiskonsums nicht nur von den gesetzlichen Regularien abhängt, sondern von den einzelnen komplexen gesellschaftlichen Grundbedingungen der verschiedenen Bundesländer.
REFERENZEN:
Diesen Artikel so zitieren: Cannabis als Freizeitdroge legalisieren? Jedenfalls nicht für Jugendliche! - Medscape - 17. Dez 2015.
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