Von der Agrarlobby beeinflusst? Die Fachwelt hat massive Bedenken gegen das Herbizid Glyphosat – und kritisiert die deutsche Risikoeinschätzung

Gerda Kneifel

Interessenkonflikte

8. Dezember 2015

Glyphosat, das meist verwendete Herbizid der Welt, ist heftig umstritten. Erst recht seit der Wirkstoff im März dieses Jahres als „wahrscheinlich kanzerogen“ eingestuft wurde – von der Internationalen Krebsforschungsagentur (International Agency for Research on Cancer, IARC), die der WHO angeschlossen ist (wie Medscape Deutschland berichtete). Ganz anders dagegen sieht es das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR), das den Unkrautvernichter als „nicht krebserregend“ einstufte.

Aus Sorge, das Unkrautvernichtungsmittel könnte auch weiterhin auf europäischen Feldern verspritzt werden, haben sich nun 96 international renommierte Wissenschaftler zusammengetan und einen offenen Brief an den EU-Kommissar für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit, Vytenis Andriukaitis, verfasst. Sie überreichten ihn am 1. Dezember in Brüssel.

Die Wissenschaftler hoffen damit noch das Ruder herumzureißen, wenn die EU-Kommission am 11. Dezember 2015 im Rahmen der EU-Wirkstoffprüfung über eine Verlängerung der Zulassung des Herbizids entscheiden wird. Denn die Stellungnahme des BfR als der europäischen Prüfbehörde wird die Entscheidung der EU-Kommission entscheidend mit beeinflussen.

In ihrem Brief machen die Wissenschaftler unter anderem klar: „Die Entscheidung ist nicht glaubwürdig, weil sie von den Studienergebnissen nicht gedeckt ist und sie nicht offen und transparent zustande kam.“ Gemeint ist die Einstufung von Glyphosat als „nicht kanzerogen“ seitens des BfR. Denn auf diese Einstufung hin hatte sich die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (European Food Safety Authority, EFSA) in einem 4.000 Seiten starken Bewertungsbericht ebenfalls für eine Verlängerung der Genehmigung des Herbizidwirkstoffs ausgesprochen. Die EFSA ist die zweite Behörde, die in der Glyphosat-Angelegenheit wesentlichen Einfluss auf die EU-Kommission nimmt.

Dr. Peter Clausing

Dr. Peter Clausing, Vorstand des Pestizid-Netzwerks (PAN) e.V., teilt die Befürchtungen der 96 Wissenschaftler, und sagt: „Der offene Brief ist nur eine schwache Hoffnung, dass die EU-Politiker aufwachen.“

Positive Bewertung auf wackeligen Füßen?

Clausing hat den EFSA-Bewertungsbericht unter die Lupe genommen – und ist mehr als enttäuscht: „Das BfR als berichterstattende Behörde hat am 31. August ein Addendum zu seinem am 31. März abgeschlossenen Bericht verabschiedet. Als ich ihn gelesen hatte, war ich überzeugt, dass die Einschätzung der EFSA dahingehend ausfallen würde, dass Glyphosat krebserregend ist.“

Denn in dem Addendum hatte das BfR nach der Veröffentlichung der Bedenken des IARC seine Sichtweise revidiert, dass Glyphosat ungefährlich sei. „Das Addendum war jedoch geleakt worden, und der MDR hat es auf seiner Homepage veröffentlicht. Dann aber ist es plötzlich wieder verschwunden, nachdem das BfR eine einstweilige Verfügung gegen den MDR erwirkt hat“, erzählt Clausing. Inhaltlich hat das Institut dann seine Meinung doch nicht revidiert – und bleibt bei der Befürwortung von Glyphosat.

 
Der offene Brief ist nur eine schwache Hoffnung, dass die EU-Politiker aufwachen. Dr. Peter Clausing
 

Für die Begründung, Glyphosat sei nicht kanzerogen, hatte das BfR Studien zugrunde gelegt, deren Fakten aus Sicht des Toxikologen genau die entgegengesetzte Schlussfolgerung zur Folge hätte haben müssen: „Fünf Mausstudien, von denen drei dem IARC noch gar nicht verfügbar gewesen waren, und zwei Studien mit Ratten haben eine signifikant erhöhte Tumorrate aufgezeigt, in drei der Mausstudien sogar für mehrere Tumorarten gleichzeitig.“ Die häufigste Tumorerkrankung waren maligne Lymphome, doch auch Nierenkrebs und Hämangiosarkome traten auf. „Die Schlussfolgerung des BfR ist völlig entkoppelt von diesen Fakten; die Wissenschaftler sind ganz offensichtlich von der Agrarlobby beeinflusst. Da wundert mich nur, dass sie nicht versucht haben, die Fakten besser zu verdrehen“, so Clausing.

Das Argument des BfR, dass bezogen auf die Mausstudien Signifikanzen allein nicht ausschlaggebend sein können, weil sich Scheinsignifikanzen dahinter verbergen könnten, wischt Clausing vom Tisch: „Das geht vielleicht bei einer, nicht aber bei fünf Studien.“

 
Die Schlussfolgerung des BfR ist völlig entkoppelt von diesen Fakten; die Wissenschaftler sind ganz offensichtlich von der Agrarlobby beeinflusst. Dr. Peter Clausing
 

Und noch mehr Kritikpunkte an der BfR-Stellungnahme hält der Toxikologe parat: Kanzerogenitätsstudien verlangen unbehandelte Kontrollen. Dies ist die wichtigste Vergleichsbasis. Um eine eventuelle zufällige Verzerrung dieser Kontrollwerte zu beurteilen, ermöglichen internationale Leitlinien das Heranziehen historischer Kontrolldaten. Für die Verwendung solcher Daten gibt es jedoch strenge Regeln. „Das BfR hat diese Regeln, bei denen Daten nicht älter als 5 Jahre sein sollten, den gleichen Mäusestamm betreffen und im gleichen Labor erfasst worden sein sollten, massiv verletzt“, moniert Clausing.

Doch das ist noch nicht alles. Die IARC hat 2 Wirkmechanismen identifiziert, durch die Glyphosat Krebs auslösen kann: Gentoxizität und oxidativen Stress. „Das BfR räumt in seinem Addendum selbst explizit ein, dass oxidativer Stress nachgewiesen wurde“, wundert sich Clausing, „aber dann postulieret es, dass das nicht interessant ist, weil ja die Hinweise auf signifikante Krebseffekte in den Mäusestudien nicht relevant seien. Es gibt hier so viele an den Haaren herbeigezogene Argumente.“  

 
Nur eine einzige Formulierung wird stellvertretend für die anderen toxikologisch getestet. Dr. Peter Clausing
 

Formulierungshilfen sind weitgehend unbekannt

Dass sich das BfR in seiner Stellungnahme nach eigenen Angaben nur mit dem reinen Wirkstoff Glyphosat beschäftigt, nicht aber mit den im Handel befindlichen Mischungen, ist nicht nur für die 96 Unterzeichner des offenen Briefes mehr als unverständlich, ja unwissenschaftlich. Denn Umwelt, Mensch und Tier sind Glyphosat nur in Kombination mit Zusatzstoffen ausgesetzt.

Auf dem Markt kursieren 80 bis 90 Unkrautvernichtungsmittel mit Glyphosat, in etwa 29 verschiedenen Formulierungen, schätzt Clausing. Und von diesen Formulierungen sind die Hilfsstoffe fast alle unbekannt. „Die Hersteller geben die Zusammensetzungen nicht preis. Nur eine einzige Formulierung wird stellvertretend für die anderen toxikologisch getestet. Selbst der BfR-Experte Lars Niemann hat auf einem Symposium 2014 geäußert, dass die Industrie versuche, eine möglichst harmlose Formulierung testen zu lassen.“

Neben dieser großen Unbekannten wissen Forscher auch kaum etwas über die Metaboliten von Glyphosat, denn 20 bis 30% des Wirkstoffs werden im menschlichen Körper verstoffwechselt. Einer der Metaboliten ist Aminomethylphosphonsäure (AMPA). Er wurde bereits im Urin von Mensch und Tier nachgewiesen. Über seine Wirkungsweise auf den Körper ist wenig bekannt.

Kommentar

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