Berlin –Radikalisierung ist weder das Ergebnis einer psychiatrischen Erkrankung noch einer Persönlichkeitsstörung. Sie wird aber durch bestimmte Umstände und Befindlichkeiten gefördert, die man beobachten und wo immer möglich bekämpfen sollte. Dies war der Tenor der DGPPN-Pressekonferenz unter dem Titel „Radikalisierung – wenn Menschen extrem werden“ [1].
„‘Wer so etwas tut, der muss doch verrückt sein, der muss doch wahnsinnig sein‘ – das ist eine allzu einfache Antwort auf entsetzliche, nicht einfühlbare Erlebnisse.“ Mit diesen Worten eröffnete DGPPN-Präsidentin Dr. Iris Hauth, Ärztliche Direktorin am St. Joseph-Krankenhaus Berlin-Weißensee, vor dem Hintergrund der Terroranschläge in Paris und anderer Gewaltattacken die Pressekonferenz des Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde.
Gewaltbereite sind fast immer psychisch gesund
„Radikalisierung gibt es bei Kranken und Gesunden. Unter den Kranken ist aber nur ein sehr kleiner Anteil gewaltbereit. Und die Mehrzahl der Personen mit Radikalisierung und Gewaltbereitschaft sind psychisch gesund“, betonte auch der Vorsitzende des DGPPN-Beirats, Prof. Dr. Henning Saß, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Forensische Psychiatrie, Aachen.
So sind laut Saß die Mitglieder politisch motivierter radikaler Gruppen wie RAF und NSU keineswegs psychisch krank, sondern sie haben eine abweichende Orientierung: „Sie entscheiden sich dafür, ihr eigenes Wertesystem über das der Gesellschaft zu stellen und ihre Ziele notfalls mit Gewalt durchzusetzen.“ Daneben gebe es radikale Gruppen ganz ohne politisch-religiöse Motivation, etwa Hooligans, die einfach aus Freude an Gewalt, allenfalls getriggert durch Sensation-Seeking, zu Tätern werden.
Eher eine Ausnahme sei dagegen die fanatisch-querulatorische Entwicklung einer Einzelperson mit rigider, egozentrischer, leicht kränkbarer Persönlichkeit, die meint, ihr Recht nicht zu bekommen und sich dies mit Gewalt nehmen zu müssen, erläuterte Saß.

PD Dr. Mazda Adli
Fehlende Teilhabe, polarisierendes Weltbild und Gruppendynamik
PD Dr. Mazda Adli, Chefarzt der Fliedner-Klinik in Berlin, vertrat ebenfalls die Ansicht, dass Radikalisierung weniger ein individueller, sondern vielmehr ein gruppenbezogener sozialer Prozess sei. Förderlich sei ein gesellschaftliches Klima von Segregation, in dem sich Minderheiten – ob begründet oder grundlos – ungerecht behandelt und von der Teilhabe ausgeschlossen fühlen.
„Kommen dann noch die Neigung zu einem polarisierenden Weltbild hinzu und das Versprechen von Sinnstiftung und Zugehörigkeit durch extremistische Organisationen oder radikale Hassprediger, dann ist der psychologische Boden für die Radikalisierung geschaffen.“ Die Gruppendynamik bringe noch einen zusätzlichen enthemmenden Effekt.
Mehr psychiatrisch-forensische Forschung gefordert
Adli forderte eine verstärkte Anstrengung zur Erforschung von Radikalisierungsprozessen. „Wir müssen unsere Expertise als Psychiater und Psychotherapeuten mit der anderer Sozialwissenschaften vereinen, um solche Prozesse rechtzeitig zu erkennen, Risikopersonen zu identifizieren und sie in präventive Interventionen einzubinden.“
Auf Nachfrage von Medscape Deutschland, wie diese Interventionen aussehen könnten, erwiderte er: „Es geht darum zu reagieren, wenn sich jemand als Teil einer Minderheit sieht und sich diskriminiert und ausgeschlossen fühlt. Dafür gibt es längst geeignete psychologische und soziale Instrumente. Das Problem ist weniger die Intervention per se, sondern das Erkennen und Zuführen dieser Personen.“
Stereotypenbildung vermeiden
Prof. Dr. Wolfgang Huber, Bischof i. R. der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg und früherer EKD-Ratsvorsitzender, betonte, bei der Abwehr des Extremismus dürfe man nicht dessen Muster, die Stereotypenbildung, übernehmen: „Die Komplexität von Gruppen darf nicht auf ein einziges Merkmal, etwa die Religionszugehörigkeit, reduziert werden, denn dies ist in hohem Maße gewaltfördernd.“
Ein individueller Risikofaktor für Radikalisierung könne die Herausforderungen im Übergang zwischen Schul- und Berufsleben sein. Wenn dies in Scheitern münde, bilde sich bei jungen Menschen oftmals eine Grundstimmung der Verbitterung: „Sie sehen die Gesellschaft in der Verantwortung; weil diese aber ein abstraktes Gebilde ist, suchen sie nach identifizierbaren Gruppen, denen sie die Schuld geben können“, meinte Huber.
Individualprognose schwierig bis unmöglich
Saß stimmte dem prinzipiell zu: Die Attentäter seien oftmals Söhne aus Familien, die hierher emigriert sind: „Sie sind bereits hier zur Schule gegangen, dabei aber nicht gut zurechtgekommen.“ In der Regel seien sie nicht von Beginn an tief religiös gewesen, sondern hätten Religion für sich als einen Fluchtort angesichts ihres Scheiterns in Lebenssituationen gesehen.
Dabei ist laut Saß die Prognose, welches Individuum aus einer Gruppe enttäuschter junger Menschen schließlich radikal und gewaltbereit werde, außerordentlich schwierig bis unmöglich. Künftige Forschung muss demnach die prospektive Begleitung junger Menschen, aber auch die retrospektive Analyse der Biografien identifizierter Gewalttäter erfassen, um Muster zu finden und daraus Präventionsmaßnahmen abzuleiten.

Prof. Dr. Harald Dreßing
Selbstmordattentäter sind nicht depressiv
Prof. Dr. Harald Dreßing, Leiter der Abteilung Forensische Psychiatrie am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit, Mannheim, erklärte gegenüber Medscape Deutschland: „Der oft zitierte Begriff ‚Selbstmordattentat‘ erinnert zwar an psychiatrische Erkrankungen. Aber Radikalisierung und radikaler Terror haben grundsätzlich nichts mit Depression und Suizidgefährdung zu tun.“
Ein depressiver Mensch sei gar nicht in der Lage, einen solchen Plan zu ersinnen und durchzuführen. Es liege vielmehr eine fanatische Ideologie vor, die zur Gewalt neigt. Dreßing betonte: „Die Täter sind in der Regel voll schuldfähig, das sind Kriminelle.“
Die oftmals zitierte Verbitterungsstörung ist laut Dreßing als Antwort unzureichend: „Das ist keine psychiatrische Diagnose.“ Eine aggressive religiöse Radikalisierung, ARR, könne auf vielerlei Weise entstehen, eine bestimmte auslösende Persönlichkeitsstörung sei nicht erkennbar.
Ansätze, um zu verstehen, wie es zu ARR kommt, bieten die Persönlichkeits-, Motivations- und Sozialpsychologie, so Dreßing: „Alle 3 Bereiche fließen in einem Modell zusammen, das recht plausibel erscheint.“ Demnach sind für die Radikalisierung am ehesten Menschen vulnerabel, die von ihrer Persönlichkeit her oppositionell, aber auch ängstlich und unsicher sind. Dazu kommt als zweiter Punkt – aber eben nur als ein Punkt – ein soziales Umfeld, das als bedrohlich und/oder frustrierend empfunden wird. Und drittens gibt es in bestimmten sozialen Strukturen religiös-fanatische Gruppenangebote, die sofortige Teilhabe, vermeintlichen Lebenssinn und eine eingebildete Überlegenheit bieten. „Dort kommen die zuvor ängstlichen und unsicheren Menschen zur Ruhe, sie meinen die Lösung all ihrer Probleme gefunden zu haben“, so Dreßing.
Ganz anders sehe es allerdings bei den Führungspersönlichkeiten der religiös-fanatischen Gruppen aus. „Dies sind wohl eher Menschen mit hohem Selbstwertgefühl und Charisma, die eigene fanatische Ziele verfolgen, sie kommen oftmals aus gut integrierten Gesellschaftsschichten.“ Eine wichtige Strategie gegen religiös motivierten Terror sei es, deren Kommunikations- und Einflussmöglichkeiten zu beschneiden: „Oftmals sind sie ja polizeibekannt.“
Präventionsangebote breit streuen und nicht aufgeben
Innerhalb von Risikogruppen einzelne künftige Gewalttäter zu identifizieren hält auch Dreßing für kaum möglich. So sei auffälliges Verhalten von Jugendlichen allenfalls ein erster Hinweis. „Dann können wir versuchen, soziale Programme zu starten, um das Selbstwertgefühl dieser vulnerablen Personen zu stärken und eine bessere Teilhabe zu gewährleisten. Diese Maßnahmen müssen wir aber breit streuen, sie müssen die ganze Gruppe umfassen.“
Ein Zuspät gibt es dabei aus Sicht von Dreßing nicht: „Als Arzt, Psychotherapeut und Humanist vertrete ich die Position, dass immer noch ein Versuch möglich ist, Menschen zu erreichen, wenn auch nicht zu jedem Zeitpunkt“, stellt er klar. „Dies gilt auch für diejenigen, die sich bereits weit aus unserer Gesellschaft entfernt und zahllose Sozialisierungsangebote ausgeschlagen haben. Es ist immer eine Umkehr möglich, wir sollten niemanden aufgeben.“
REFERENZEN:
1. Pressekonferenz „Wenn Menschen radikal werden”, 26. November 2015, DGPPN-Kongress, Berlin
Diesen Artikel so zitieren: DGPPN-Kongress: „Radikalisierung und Terror haben grundsätzlich nichts mit Depression und Suizidgefährdung zu tun“ - Medscape - 2. Dez 2015.
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