Wie häufig ist das Seltene? Versorgungsatlas zeigt erstmals für Deutschland die Prävalenz von Orphan Diseases

Ute Eppinger

Interessenkonflikte

2. Dezember 2015

Hypothyreose, Phenylketonurie oder Morbus Menière: Seltene Erkrankungen (SE) oder Orphan Diseases rücken zwar mehr und mehr ins Interesse der Öffentlichkeit – doch wie verbreitet welche Diagnosen in Deutschland tatsächlich sind, war bislang nicht wirklich bekannt. Mit der jüngsten Veröffentlichung des Versorgungsatlas ändert sich das jetzt: Für 88 seltene Erkrankungen haben Wissenschaftler um Maike Schulz erstmals die Zahl der erkrankten Menschen in Deutschland ermittelt [1].

„Wir bekamen extern einige Anfragen zu seltenen Erkrankungen. Dabei ist uns klar geworden, dass seltene Erkrankungen zwar immer mehr in den Fokus der Öffentlichkeit rücken, die Informationslage aber – allein schon zur Prävalenz seltener Erkrankungen – unzureichend ist. Wir haben also überlegt, was wir dazu beitragen können, dieses Informationsdefizit auszugleichen“, sagt Schulz, Epidemiologin am Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung (Zi), im Gespräch mit Medscape Deutschland.

Schätzungen zufolge leiden in Deutschland 4 Millionen Menschen an einer seltenen Erkrankung. Als selten gilt eine Krankheit dann, wenn weniger als 50 von 100.000 Menschen davon betroffen sind. Rund 8.000 seltene Erkrankungen sind bekannt.  

 
Uns ging es daher darum, die Prävalenz speziell für Deutschland zu ermitteln. Maike Schulz
 

Nur ein Bruchteil der SE ist im ICD-10 überhaupt erfasst

Die Datenerfassung zu seltenen Erkrankungen in Deutschland geschieht momentan mit Hilfe von mindestens 119 verschiedenen Registern zu unterschiedlichen SE. Eine umfassende Quelle bietet eine Publikation von Orphanet: Wie Schulz erklärt, werden seltene Erkrankungen in diesem Portal zwar erfasst und deren Prävalenz dokumentiert, allerdings sind diese Angaben nicht immer auf Deutschland übertragbar. „Uns ging es daher darum, die Prävalenz speziell für Deutschland zu ermitteln“, erklärt Schulz.

Schulz und ihre Kollegen wählten die Erkrankungen anhand des Orphanet-Berichts vom Mai 2014 aus und berücksichtigten die Daten des Neugeborenen-Screenings. Die Studie war eine methodische Herausforderung. Denn nur ein Bruchteil dieser Leiden ist in der internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten (ICD-10) einzeln abgebildet und damit in den ambulanten ärztlichen Abrechnungsdaten erfasst.

Schulz und Dr. Jörg Bätzing-Feigenbaum, der Leiter des Versorgungsatlas, beschränkten ihre Auswertung auf die Erkrankungen, die mindestens 3 von 100.000 Menschen betreffen, eine ICD-10-Kodierung besitzen und keine Infektions- und Tumorkrankheit sind. 88 seltene Erkrankungen wurden ausgewählt und die Zahl der Patienten auf Basis der ambulanten Abrechnungsdaten ermittelt. Die Daten wurden gepoolt, d.h. im Durchschnitt der Jahre 2008 bis 2011, analysiert. Ohne diese Vorgehensweise wäre eine stabile Prävalenzschätzung nicht möglich gewesen.

 
Allerdings sollten regionale Unterschiede – insbesondere, wenn nur (sehr) wenige Patienten von einer Erkrankung betroffen sind – nicht überinterpretiert werden. Maike Schulz
 

Berücksichtigt wurden nur ambulante Daten. Das hat zur Folge, dass die Prävalenz schwerer, angeborener Fehlbildungen bzw. Erkrankungen, die sich durch eine hohe intrauterine oder perinatale Letalität auszeichnen, deutlich unterschätzt wird. Dazu gehört beispielsweise die Trisomie 18, deren Prävalenz Orphanet mit 8,6/100.000 angibt, anhand der Abrechnungsdaten aber nur eine Prävalenz von 0,62/100.000 ermittelt werden konnte.

Mehr als eine halbe Million Menschen befanden sich wegen seltener Erkrankungen zwischen 2008 und 2011 pro Jahr in ärztlicher Behandlung. Dabei leiden die meisten Patienten an Krankheiten mit Prävalenzen von weniger als einem Fall pro 100.000 Einwohner. Die durchschnittliche Diagnosedauer ab dem Auftreten der ersten erkrankungsspezifischen Symptome beträgt bei seltenen Erkrankungen 7 Jahre.

Entzündliche Erkrankungen weisen den größten Anteil auf

Mit 27% haben entzündliche Erkrankungen den größten Anteil, gefolgt von genetisch bedingten Erkrankungen (10%) und Hauterkrankungen (7%). Die insgesamt gefundenen Häufigkeiten schwankten zwischen knapp 113 Fällen pro 100.000 bei der Menière-Krankheit und einem Patienten auf 10 Millionen Einwohner bei der Kraniorhachischisis, einer angeborenen Fehlbildung des Zentralnervensystems.

 
Ein Abgleich mit den Daten des Neugeborenen-Screenings ergab, dass unsere Berechnungen zuverlässig sind. Dr. Jörg Bätzing-Feigenbaum
 

Die Wissenschaftler fanden regionale Unterschiede. Für Sarkoidose wird ein Nord-Süd-Gefälle berichtet: So sind daran in südeuropäischen Ländern etwa 3 pro 100.000 Einwohner erkrankt, im Norden (z.B. Schweden) dagegen 60 von 100.000 Einwohnern, sagt Schulz. Ein solches Gefälle fand sie auch für Deutschland: Während in Hessen 32 von 100.000 Einwohnern an Sarkoidose erkrankt sind, liegen die Zahlen in Mecklenburg-Vorpommern mit 69 von 100.000 Einwohner mehr als doppelt so hoch. „Allerdings sollten regionale Unterschiede – insbesondere, wenn nur (sehr) wenige Patienten von einer Erkrankung betroffen sind – nicht überinterpretiert werden“, erklärt Schulz.

Die Ergebnisse zeigen, dass die Bestimmung der Prävalenzen bestimmter seltener Erkrankungen anhand von Routinedaten möglich ist und verwertbare Ergebnisse erzielt werden können. „Ein Abgleich mit den Daten des Neugeborenen-Screenings ergab, dass unsere Berechnungen zuverlässig sind“, sagt Bätzing-Feigenbaum. In 75% der Erkrankungen wurden Abweichungen von weniger als 1,5 je 100.000 erzielt (minimale Abweichung 0,1 je 100.000). Das lässt eine prinzipielle Zuverlässigkeit der Ergebnisse erwarten. Die Autoren werten die Ergebnisse jedoch nur als ersten Schritt in der Betrachtung der Situation von Patienten mit SE in Deutschland.

Weitere Analysen werden frühestens Mitte 2016 beginnen; bis die Ergebnisse vorliegen, dürfte es bis Jahresmitte 2017 dauern. „Wir hoffen, dann mit diesen Daten zeigen zu können, wo und wie Patienten mit seltenen Erkrankungen behandelt werden. Vielleicht gelingt es uns sogar, für einige Erkrankungen einen Algorithmus zu entwickeln, der niedergelassenen Ärzten perspektivisch eine Hilfe bei der Diagnosestellung sein könnte“, sagt Schulz und fügt hinzu „Es gibt viele Ideen. Und es gibt noch einen großen Informationsbedarf.“

 

REFERENZEN:

1. Schulz M, et al: Versorgungsatlas-Bericht Nr. 15/13. Berlin, 2015

Kommentar

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