Studie zum Welt-Aids-Tag: Präexpositionsprophylaxe schützt sehr wirksam vor HIV – auch bei nicht täglicher Einnahme

Inge Brinkmann

Interessenkonflikte

1. Dezember 2015

Der 1. Dezember ist Welt-Aids-Tag. Hilfsorganisationen warnen anlässlich dieses Tages davor, die Infektionsproblematik zu unterschätzen. Aids ist die zweithäufigste Todesursache weltweit unter Teenagern (die häufigste sind Unfälle). Dies teilt die Deutsche Stiftung Weltbevölkerung anlässlich des 1. Dezember mit. In Afrika sei die Immunkrankheit sogar die häufigste Sterbeursache bei den 10- bis 19-Jährigen. Gleichwohl hat sich der Papst auf dem Rückflug von seiner Afrika-Reise dagegen ausgesprochen, das kirchliche Kondomverbot zu überdenken.

Erst vor kurzem hatten Berichte über einen starken Anstieg der HIV-Infektionen in Europa für Aufsehen gesorgt. Das Europäische Zentrum für Prävention und Kontrolle von Krankheiten registrierte im vergangenen Jahr mehr als 140.000 Neuinfektionen – vor allem in Osteuropa.
Weltweit sind UN-Daten zufolge knapp 37 Millionen Menschen mit dem HI-Virus infiziert

Vor diesem Hintergrund hat nun die ebenfalls zum 1. Dezember im The New England Journal of Medicine veröffentlichte IPERGAY-Studie gezeigt, dass sich bei Mitgliedern von Risikogruppen durch die präventive Einnahme antiretroviraler Medikamente das Risiko einer Ansteckung mit dem HI-Virus um 86% verringern lässt [1].

„Dieses Ergebnis ist eine der höchsten bislang veröffentlichten Risikoreduktionen“, betont das Autorenteam um Prof. Dr. Jean-Michel Molina, Departement of Infectious Diseases, Hôpital Saint-Louis, Paris. Erstaunlich sei dies besonders, weil die Studienteilnehmer die Pillen mit der Wirkstoffkombination Tenofovir/Emtricitabin (TDF-FTC) nicht, wie bislang empfohlen, täglich einnehmen mussten.

Weniger striktes Einnahmeprotokoll gegen mangelhafte Therapieadhärenz?

Tatsächlich ist das Wissen um die Wirksamkeit der Präexpositionsprophylaxe (PrEP) bei HIV-Risikogruppen nicht neu. Auch frühere Studien bescheinigten verschiedenen Wirkstoffen bzw. Wirkstoffkombinationen bereits eine hohe Schutzwirkung (z.B. iPrEX).

In einem wichtigen Punkt aber unterscheidet sich IPERGAY: Die Teilnehmer sollten die Pillen nicht – wie in den Vorgängerstudien – täglich nehmen, sondern nur kurz vor und kurz nach einem sexuellen Kontakt. Damit wollten die Wissenschaftler um Molina einem großen Problem im Zusammenhang mit der PrEP begegnen – der mangelhaften Therapieadhärenz.

So war aus früheren Untersuchungen bekannt, dass viele Teilnehmer die Mittel nur unregelmäßig oder überhaupt nicht einnahmen. Ein typisches Verhalten, das auch von HIV-Infizierten und anderen chronisch Erkrankten bekannt ist. „Patienten, die sich relativ wohl fühlen, widerstrebt die Aufnahme und Fortführung einer Therapie, die mit (vermeintlichen) Nebenwirkungen verbunden sein kann“, schreiben die Autoren um den Direktor der US-amerikanischen Gesundheitsbehörde (CDC) Dr. Thomas R. Frieden in einer weiteren NEJM-Publikation [2].

Eine wichtige Entdeckung in dem Zusammenhang gelang jedoch bereits der iPrEX-Nachfolgeuntersuchung PROUD. Darin hatte sich gezeigt, dass die Infektionsrate unter Männern, deren intrazellulärer TDF-FTC-Spiegel einer Einnahme von nur 4 Pillen pro Woche entsprach, rapide sank. Ferner deuteten laut Molina und seinen Kollegen Tierversuche darauf hin, dass eine auf den Zeitpunkt sexueller Aktivität begrenzte Wirkstoffeinnahme einen adäquaten Schutz gegen eine HIV-Infektion gewähren könnte.

In der neuen Multicenterstudie entfiel deshalb die strengere Vorgabe einer täglichen Medikamenteneinnahme. Stattdessen wurde hier die Sicherheit und Wirksamkeit eines allein vom sexuellen Verhalten abhängigen Einnahmeprotokolls untersucht.

IPERGAY beschränkt sich auf die PrEP „on demand“

400 nicht mit HIV-infizierte Männer (bzw. Transgender), die im letzten halben Jahr ungeschützten Analverkehr mit mindestens 2 Partnern hatten, wurden zwischen Februar 2012 und Oktober 2014 in 2 Gruppen randomisiert. In der TDF-FTC-Gruppe enthielten die an die Teilnehmer ausgehändigten Pillen eine Kombination aus 300 mg Tenofovir und 200 g Emtricitabin. Die Mitglieder der Kontrollgruppe erhielten eine entsprechende Menge Placebos.

 
Während wir auf eine effektive HIV-Impfung warten, könnte eine solche Präexpositionsprophylaxe mit TDF-FTC zu einer reduzierten Inzidenz von HIV-Infektionen unter Hochrisiko-Männern beitragen. Prof. Dr. Jean-Michel Molina und Kollegen
 

2 bis 24 Stunden vor einem sexuellen Kontakt sollten 2 Pillen eingenommen werden und eine 3. und 4. Pille im Abstand von jeweils 24 Stunden nach der letztmaligen Einnahme. Lag der letzte sexuelle Kontakt weniger als eine Woche zurück, sollten die Studienteilnehmer mit einer Pille anstatt mit 2 starten. Bei häufig aufeinanderfolgendem Sex empfahlen die Wissenschaftler zudem in dieser Zeit eine Tablette pro Tag plus der postprophylaktischen Einnahme von 2 Pillen im Abstand von 24 und 48 Stunden am Ende einer solchen Periode.

4 bis 8 Wochen nach der Aufnahme in die Studie wurden die Teilnehmer erstmalig auf neue HIV-Infektionen untersucht und ein Blutbild angefertigt. Im weiteren Verlauf erfolgten die Untersuchungen am jeweiligen Studienstandort (6 in Frankreich und 1 in Kanada) in einem regelmäßigen Abstand von 8 Wochen. Dabei wurde den Männern jedes Mal ein Tablettenvorrat ausgehändigt, der eine tägliche Anwendung zwischen den einzelnen Besuchen gewährleistete; der Verbrauch in der Zwischenzeit wurde dokumentiert. Außerdem sollten sie vor den jeweiligen Terminen in computergestützten Interviews Fragen u.a. zu ihrem Alkohol- und Drogenkonsum, ihrem sexuellen Verhalten und der Therapietreue beantworteten. Primärer Endpunkt war die Zahl von HIV-Neuinfektionen.

Tägliche Medikamenteneinnahme ist keine Vorraussetzung für die Schutzwirkung der PrEP

Im Schnitt wurden die Teilnehmer über einen Zeitraum von 9,3 Monaten überwacht; und es zeigte sich, dass die Männer in dieser Zeit unabhängig von ihrer Gruppenzugehörigkeit durchschnittlich 15 Pillen pro Monat eingenommen hatten.

Vor allem aber zeigte sich, dass eine tägliche Einnahme der Pillen offenbar keine unbedingte Voraussetzung für eine PrEP-Schutzwirkung ist. So hatten sich insgesamt 16 Teilnehmer im Studienzeitraum mit dem HI-Virus infiziert. Aber nur 2 der Infektionsfälle traten in der TDF-FTC-Gruppe auf (= 0,91 Fälle pro 100 Personenjahren). Beide Infizierte hatten zudem offenbar die Tabletten nicht wie vorgesehen eingenommen. In der Kontrollgruppe hatten sich 14 Menschen mit dem Virus infiziert (= 6,6 Fälle pro 100 Personenjahre).

Die vom sexuellen Verhalten abhängige Einnahme von TDF-FTC im Vergleich zur Placeboeinnahme war somit mit einem um 86% reduzierten Infektionsrisiko verbunden.

Zwar gab es auch vermehrt gastrointestinale bzw. renale Nebenwirkungen unter der Einnahme der antiretroviralen Medikamente (14% vs. 5% bzw. 18% vs. 10%). Letztlich, so schreiben Dr. Anthony S. Fauci, Direktor des National Institute of Allergy and Infectious Diseases in Bethesda, Maryland, und seine Kollegin Dr. Hilary D. Marston in einem ebenfalls im NEJM veröffentlichten Text, habe IPERGAY jedoch die Sicherheit und Wirksamkeit von „on demand“ PrEP bei Männern, die mit Männern Sex haben und ein hohes Infektionsrisiko haben, demonstriert [3].

Welche Rolle spielte der Plasmaspiegel?

Molina und sein Team schränken allerdings selbst ein, dass der Beobachtungszeitraum relativ kurz gewesen und die Adhärenz gerade zu Beginn einer Medikamenteneinnahme immer größer sei. Das heißt, dass die Pillen möglicherweise auch hier im Laufe der Zeit immer seltener (und vielleicht zu selten) eingenommen worden wären.

Aber auch schon jetzt hielten sich viele Teilnehmer nicht immer konsequent an die Vorgaben der Wissenschaftler. So hatten 28% der Teilnehmer in den Interviews angegeben, gelegentlich überhaupt keine Pillen bei einem sexuellen Kontakt eingenommen zu haben, und 29% der Männer hatten die Präparate mitunter nur suboptimal dosiert. Nicht einmal die Hälfte der Studienteilnehmer (43%) hatte sich jedes Mal strikt an das Protokoll gehalten.

Deshalb sei auch möglich, dass allein die durchschnittliche Einnahme von 15 Pillen pro Monat zu einem ausreichend wirksamen TDF-FTC-Plasmaspiegel geführt habe, so Molina und Kollegen. „Auf Männer, die seltener Sex mit Männern haben und dementsprechend seltener TDF-FTC einnehmen, können die Ergebnisse nicht übertragen werden.“

Trotzdem – antiretrovirale Medikamente müssen offenbar nicht kontinuierlich eingenommen werden, um vor einer Infektion zu schützen, schreiben sie. Insbesondere in Zeiten, in denen kein konkretes HIV-Übertragungsrisiko besteht, könnte wohl auf die Einnahme verzichtet werden. „Während wir auf eine effektive HIV-Impfung warten, könnte eine solche Präexpositionsprophylaxe mit TDF-FTC zu einer reduzierten Inzidenz von HIV-Infektionen unter Hochrisiko-Männern beitragen“, so Molina und Mitarbeiter.

Experten drängen auf eine europäische Zulassung

Eine europäische Zulassung hat die Präexpositions-Prophylaxe mit der Wirkstoffkombination noch nicht. Anders als in den Vereinigten Staaten, dort ist Truvada® (eine Fixkombination aus Emtricitabin und Tenofovir) bereits für nicht HIV-infizierte Menschen, die einer Risikogruppe angehören, zugelassen.

Doch auch in Deutschland drängen schon seit längerer Zeit mehr und mehr Experten auf eine Zulassung. Die Deutsche AIDS-Hilfe vertritt etwa die Auffassung: „Was Menschen vor einer HIV-Infektion bewahren kann, muss auch zum Einsatz kommen.“ Und die Deutsche Arbeitsgemeinschaft niedergelassener Ärzte in der Versorgung HIV-Infizierter (dagnä) nahm bereits im Mai diesen Jahres öffentlich Stellung. In ihrem Positionspapier zeigt sie sich davon überzeugt, dass „die Einführung und Verfügbarkeit der PrEP als sehr effektive Präventionsmaßnahme [...] aufgrund der gegebenen wissenschaftlichen Evidenzlage – nach heutigem Stand – angezeigt“ ist.

Mögliche off-label-Verordnungen auf Selbstzahler-Basis führten behandelnde Ärzte derzeit in eine rechtliche Grauzone, die für Verordner wie für Patienten haftungsrechtlich höchst unbefriedigend sei, so die dagnä. Gegenwärtig sei allerdings das Interesse des pharmazeutischen Unternehmers an einer Zulassungserweiterung von TDF-FTC für die PrEP bei der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA) unklar.

 

REFERENZEN:

1. Molina J-M, et al: NEJM (online) 1. Dezember 2015

2. Frieden TR, et al: NEJM (online) 1. Dezember 2015

3. Fauci AS, et al: NEJM (online) 1. Dezember 2015

Kommentar

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