
Dr. Shari Langemak
Es gibt Bereiche in der Medizin, da ist der Computer dem Arzt scheinbar überlegen. IBM Watson zum Beispiel fällt in 90% der Fälle die richtige Therapie-Entscheidung, Ärzte nur in 50%. Um so weit zu kommen, hat der Supercomputer einiges lernen müssen. Dutzende Medizinbücher und Journal-Artikel, zusammen mit tausenden Patientenakten hat er bereits gelesen. Mit diesem Wissen soll er bald Ärzten bei der Krebstherapie helfen [1].
Verständlich, dass es demgegenüber Ärzten manchmal schwerfällt, mit diesem Tempo mitzuhalten. Würde ein Mediziner in allem auf dem aktuellen Stand bleiben wollen müsste er jede Woche – so schätzt man – so 160 Stunden Studien lesen.
Doch natürlich ist ein Arzt mehr als eine Diagnose-Therapie-Entscheidungsmaschine. Wir alle wissen, das gute Diagnose- und Therapie-Entscheidungen nie allein nach Algorithmus gefällt werden. Und dass der Patient oft mehr als eine korrekte Diagnose braucht.
Wandel der Arzt-Patienten-Beziehung
Während Watson nicht im Widerspruch zu solchen Werten steht, sondern vielmehr als sinnvolle Ergänzung des ärztlichen Handelns gesehen werden kann, greifen andere Anwendungsszenarien der sogenannten AI (artificial intelligence, AI) schon deutlicher in die Arzt-Patienten-Beziehung ein. Ein Beispiel für diesen womöglichen Wandel könnte Babylon Health darstellen, das künftig seinen Service mit AI erweitern möchte. Das britische Telemedizin-Startup bietet für nur 8 britische Pfund pro Monat Telefonkonsultationen mit Ärzten an – und zwar an jedem Tag und zu jeder Uhrzeit.
Mit Hilfe von AI will Babylon Health nun noch effektiver bei der Abarbeitung seiner Kunden werden. Anders als bei Watson soll AI in diesem Fall aber nicht dem Arzt bei der Entscheidung helfen, sondern die Zahl der Arzt-Konsultationen minimieren. Wie das genau funktionieren sollen, hat Gründer und CEO Ali Parsa erst kürzlich in einem Forbes-Artikel beschrieben.
Wenn AI über den Arzttermin entscheidet
Während derzeit noch jeder Kunde direkt mit einem Arzt verbunden wird, soll bald eine Art elektronischer Arzthelfer den Patienten empfangen. Erst wenn dieser sein Okay gibt, wird der Patient auch zu einem Arzt durchgestellt. Die Auslese macht der vermeintlich kluge Algorithmus.
Der Anrufer beantwortet dazu ein paar Fragen, anhand derer der elektronische Arzthelfer das Risikopotential berechnet. Ein wenig Kopfschmerzen? Das braucht kein Arztgespräch, sondern kann ganz ohne Arzt zuhause abgewartet werden. Eine kleine Warnung für eine eventuelle Verschlechterung der Symptome – und damit ist das Gespräch dann auch beendet.
Manch einer mag sich nun fragen, warum man diesen Service eigentlich nicht versuchen sollte. Wir alle wissen, dass keine geringe Zahl an Patienten ihren Arzt für Nichtigkeiten aufsucht – und dass dies insbesondere für Notaufnahmen zu einem Problem werden kann. Außerdem – das muss man dem klugen Algorithmus lassen – werden die wichtigsten kritischen Differentialdiagnosen mit klugen Fragen ausgeschlossen. Klingt also so, als würde AI nichts anderes tun, als das, was der Arzt auch machen würde.
Ergänzung zu, und nicht Ersatz von Ärzten
Und doch gibt es einen erheblichen Unterschied: Der elektronische Arzthelfer mag hervorragend mit künstlicher Intelligenz ausgestattet sein – aber an emotionaler Intelligenz wird es ihm voraussichtlich fehlen. Ein Arzt-Patienten-Gespräch ist letztlich sehr viel mehr, als allein Diagnosen aufzustellen und Medikamente zu verschreiben. Es ist Teil der Therapie, wie es Dr. John Mandrola bereits sehr trefflich in seiner Kolumne darstellt („Ein Verlust für alle“: Wenn Ärzte die klinische Praxis verlassen).
Wenn es um die vielfältigen Hintergründe einer Erkrankung geht, dann wird auf absehbare Zeit nur ein Arzt die richtigen Schlüsse ziehen können. Es ist schwer vorstellbar, dass AI bereits jetzt in der Lage sein wird, Probleme wie häusliche Gewalt, Isolation oder viele Arten von psychischen Erkrankungen zu erkennen. Natürlich gibt es auch in diesen Feldern immense Fortschritte. Startups wie Ginger.io, das anhand der Länge von Telefongesprächen und der täglichen Aktivität das Depressionsrisiko vorhersagt, helfen uns dabei, Diagnosen präziser und früher zu treffen. Und natürlich liegt der Gedanke nahe, dass derartige Allround-Checks künftig mit in das Arzt-Patienten-Gespräch einfließen könnten. Als Ergänzung zu einem Arzt könnten derartige Innovationen unser Gesundheitssystem grundlegend und nachhaltig verbessern.
Dabei sollten wir allerdings nicht den Fehler begehen, die Arbeit gleich ganz der künstlichen Intelligenz zu überlassen. Der Computer mag dem Arzt teilweise überlegen sein, wenn es um die Auswertung von Patientenakten und die Berücksichtigung aller aktuellen Studiendaten geht. In Sachen Empathie, Erfahrung und Patientenbeziehung wird die künstliche Intelligenz allerdings lange noch von uns Menschen lernen müssen.
REFERENZEN:
1. Memorial Sloan Kettering Cancer Center: Blog, 11. April 2014
Diesen Artikel so zitieren: Versorgung am laufenden Band: Mit AI verbringen Sie noch weniger Zeit mit dem Patienten - Medscape - 27. Nov 2015.
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