
Prof. Dr. Tom Bschor
Berlin – Insgesamt 276 neue Metaanalysen und systematische Reviews, darunter 37 zur Pharmakotherapie, gingen in die überarbeitete Version der S3-Leitlinie/Nationale VersorgungsLeitlinie Unipolare Depression ein. Prof. Dr. Tom Bschor, Chefarzt der Abteilung Psychiatrie der Schlosspark-Klinik Berlin, war maßgeblich an der Erstellung der Leitlinie beteiligt. Beim Deutschen Psychiatriekongress in Berlin stellte er die wichtigesten Neuerungen im Vergleich zur alten Version von 2009 vor [1].
Die neue Leitlinie enthält erstmals klare Anweisungen zum Zeittakt beim Einstieg in die Behandlung. Sie beinhaltet zudem für fast alle Antidepressiva Referenzwerte für die anzustrebenden Serumspiegel. Bezüglich der Therapie führt sie Antipsychotika zur Augmentation ein und bezieht jetzt auch eine Vielzahl von Psychotherapien mit ein.
Neue Richtlinien für die verschiedenen Schweregrade
Neu ist auch die Zurückhaltung bei milder Symptomatik. So wird bei Patienten mit leichter Depression in den ersten beiden Wochen gar keine Medikation und auch keine Psychotherapie, sondern zunächst eine aktiv-abwartende Begleitung empfohlen – das deutsche Pendant zum Watchful Waiting. Denn: „Bei leichten Depressionen ist der Unterschied zwischen einer Behandlung mit Antidepressiva und mit Placebo nicht klinisch bedeutsam“, so Bschor gegenüber Medscape Deutschland. Bessert sich der Zustand des Patienten nicht innerhalb von 2 Wochen, so kommen supportive psychiatrisch-psychotherapeutisch-psychosomatische Ansätze in Frage.
Antidepressiva kommen dagegen bei Patienten mit mittelschwerer oder schwerer Depression zum Einsatz. Auch hier gibt es Änderungen in der NVL: „Erstmals haben wir eine klare zeitliche Abfolge der Therapie“, so Bschor. „Wenn eine Aufdosierung notwendig ist, sollte diese Phase so kurz wie möglich gehalten werden. Ist dann die Standarddosis erreicht, sollte nach einer Wirklatenzzeit von 4 Wochen, bei älteren Patienten 6 Wochen, die Wirksamkeit überprüft werden. An einem festgelegten ‚Entscheidungstag‘ wählen wir zwischen Erhaltungstherapie oder Therapieveränderung.“ Nur so könne verhindert werden, dass Nonresponder unnötig lange auf einer unwirksamen Behandlung verbleiben.
Derzeit kein Ranking der Medikamente möglich
Bei der Auswahl des Erstlinien-Antidepressivums ist der Arzt noch immer auf sich gestellt bzw. auf die Wünsche und Komorbiditäten des Patienten verwiesen. Zwar liegen inzwischen 2 Metaanalysen vor, die den Effekt verschiedener Antidepressiva miteinander vergleichen. Diese kommen aber zu entgegengesetzten Schlüssen: „Cipriani und seine Kollegen bewerten Mirtazapin, Escitalopram, Venlafaxin und Sertralin als besonders wirksam, sehen aber bei Mirtazapin und Venlafaxin Nachteile bei der Verträglichkeit und sprechen deshalb eine vorsichtige Empfehlung für Escitalopram und Sertralin aus“, erklärt Bschor auf Nachfrage von Medscape Deutschland.
„Dagegen sehen Gartlehner und seine Kollegen keine klinisch relevanten Unterschiede zwischen den untersuchten neueren Antidepressiva“, so Bschor. Bei so unklarer Datenlage wollten sich die Autoren der Leitlinie nicht für oder gegen einzelne Antidepressiva aussprechen. Beide Analysen wurden aber in der Leitlinie ausführlich dargestellt.
Bewirkt ein Antidepressivum allein keine ausreichende Response, so sollten zunächst die Korrektheit der Diagnose, die Therapieadhärenz des Patienten und die richtige Dosierung überprüft werden. Bringt dies nichts, sollte der Serum-Talspiegel überprüft werden. „In der neuen Leitlinie stehen für fast alle Antidepressiva Referenzwerte zur Verfügung“, so Bschor. „Das hilft, Patienten mit abweichender Metabolisierung zu finden, bei denen man die Dosis anpassen sollte.“
Augmentation jetzt auch mit Antipsychotika
Helfen auch die Spiegelüberprüfung und Dosisanpassung nicht, so sind in der Leitlinie 4 Optionen der Therapieintensivierung aufgeführt. Die stärkste Evidenz gibt es für die Lithiumaugmentation.
„Neu hinzugekommen ist die Empfehlung einer Augmentation mit Antipsychotika, sie hat ebenfalls eine hohe Evidenz“, ergänzt Bschor. Zugelassen ist hier für nur Quetiapin. Die Leitlinie nennt außerdem die Off-Label-Anwendung von Aripiprazol, Olanzapin oder Risperidon.
Die 3. Möglichkeit ist die Kombination mehrerer Antidepressiva, die neue Leitlinie sagt dazu: „Bei einem Patienten, der auf eine Antidepressivamonotherapie nicht respondiert hat, kann als einzige Antidepressivakombination die Kombination von Mianserin (unter Berücksichtigung des Agranulozytoserisikos) oder Mirtazapin einerseits mit einem SSRI oder einem TZA andererseits empfohlen werden. Nur für diese Kombination wurde in mehreren randomisierten und doppelblinden Studien gezeigt, dass sie wirksamer ist als die Monotherapie mit nur einem der Wirkstoffe.“ Für die 4. Option der Therapieintensivierung – die Umstellung auf ein neues Antidepressivum – existiert bislang nur eine schwache Evidenz.
Darüber hinaus wurden für die revidierte Leitlinie etliche Themen bearbeitet, die in der ursprünglichen Version noch nicht ausreichend berücksichtigt werden konnten, insbesondere im Bereich Psychotherapie und kombinierte Behandlung. Komplett neu sind die Kapitel Psychotherapie bei Älteren, Systemische und Familientherapie, kognitive Therapien der dritten Welle, niederschwellige psychosoziale Interventionen und körperliches Training. Berücksichtigt wurden auch die Aspekte Migrationshintergrund, Gender sowie zyklusassoziierte Störungen.
REFERENZEN:
Diesen Artikel so zitieren: Neue Leitlinie Unipolare Depression: Antipsychotika als Therapieoption - Medscape - 27. Nov 2015.
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