Lasst uns reden ... – weniger Antibiotika durch mehr Kommunikation

Inge Brinkmann

Interessenkonflikte

20. November 2015

Partizipative Entscheidungsfindung (englisch: shared decision making) kann laut eines aktuellen Cochrane Reviews dazu beitragen, die hausärztlichen Antibiotiaka-Verordnungen bei akuten Atemwegserkrankungen um knapp 40% zu senken – und zwar ohne dabei die Patientenzufriedenheit zu vermindern oder die Zahl erneuter Konsultationen beim Hausarzt zu erhöhen [1].

„Insgesamt hochwertige Studien mit methodischen Limitierungen“

„Durch das aktuelle Cochrane Review verdichtet sich die Evidenz aus den vergangenen Jahren, dass die partizipative Entscheidungsfindung einen bedeutenden Einfluss auf die Verminderung der Verschreibungen von unnötigen Antibiotika bei akuten Atemwegsinfekten hat“, erklärt Prof. Dr. Attila Altiner, Direktor des Instituts für Allgemeinmedizin der Universität Rostock, im Gespräch mit Medscape Deutschland. Auch die Ergebnisse einer von ihm geleiteten und bereits 2007 veröffentlichten Untersuchung zu Antibiotika-Verordnungen bei akutem Husten in Deutschland sind in die Übersichtsarbeit eingeflossen.

Durch die neue Arbeit habe sich überdies gezeigt, dass die partizipative Entscheidungsfindung in unterschiedlichen Medizinsystemen bzw. in Ländern mit unterschiedlich hohen Verschreibungsraten effektiv sei, ergänzt Altiner.

Die von den Cochrane-Autoren als „moderat“ beschriebene Evidenz der Untersuchung bewertet Altiner dabei als durchaus aussagekräftig. Unter anderem aufgrund der fehlenden (da unmöglichen) Verblindung der Studien und der unvermeidlichen Drop-out-Raten bei Interventionsstudien müssten gewisse methodische Limitierungen der insgesamt sehr hochwertigen Studien akzeptiert werden, so der Experte.

Erwarten die Patienten Antibiotika?

Auch Erstautor Peter Coxeter, Center for Research in Evidence-Based Practice an der australischen Bond University, beschreibt in einer die Veröffentlichung begleitenden Pressemitteilung die partizipative Entscheidungsfindung als einen „relativ simplen Weg, um Antibiotikaresistenzen zu reduzieren.“

Durch das aktuelle Cochrane Review verdichtet sich die Evidenz …, dass die partizipative Entscheidungsfindung einen bedeutenden Einfluss auf die Verminderung der Verschreibungen von unnötigen Antibiotika bei akuten Atemwegsinfekten hat. Prof. Dr. Attila Altiner

Tatsächlich gehören akute Atemwegsinfekte zu den häufigsten Erkrankungen, aufgrund derer Patienten ihren Hausarzt konsultieren. Und sie sind zugleich die Hauptindikation für eine antibakterielle Therapie im ambulanten Bereich.

Eine im letzten Jahr veröffentlichte Untersuchung aus den USA ergab beispielsweise, dass ca. 60% der Patienten mit einer Halsentzündung ein antimikrobielles Mittel verschrieben würde. Die Ergebnisse verschiedener Studien aus Deutschland zeichnen ein ähnliches Bild. Und das, obwohl mittlerweile in nationalen und internationalen Leitlinien festgehalten wurde, dass Antibiotika nicht routinemäßig verordnet werden sollten – aufgrund des überwiegend komplikationsfreien Verlaufs der Infekte, des erhöhten Risikos unerwünschter Wirkungen und des Risikos von Resistenzentwicklungen.

„Bekannt ist aber auch, dass eine reine Wissensvermittlung das ärztliche Handeln kaum beeinflusst“, erklärt Altiner, Vorsitzender der Gesellschaft der Hochschullehrer für Allgemeinmedizin (GHA). Stattdessen empfinden sich Ärzte offenbar häufig von ihren Patienten unter Druck gesetzt und nehmen an, dass diese die Verschreibung eines Antibiotikums erwarten. Dies sei aber in vielen Fällen eine Missinterpretation von ärztlicher Seite, sagt Altiner. Zwar erhofften die erkrankten Patienten rasche Besserung, allerdings hätten Patientenbefragungen ergeben, dass nur eine Minderheit tatsächlich ein Antibiotikum erwartet.

Mit Hilfe von Techniken, die die Kommunikation zwischen Arzt und Patient verbessern, könnten solche ärztlichen Reflexe relativ leicht vermieden werden, sagt der Rostocker Experte.

Mit Workshops und Online-Tools zu einer besseren Kommunikation

In das Cochrane Review flossen die Ergebnisse von insgesamt 10 Studien aus Europa und Kanada – und mithin Daten aus 1.100 Hausarztpraxen und von rund 492.000 Patienten – ein. Die Patienten (Erwachsene und Kinder) mussten Symptome einer akuten Atemwegserkrankung aufweisen, die seit maximal 4 Wochen andauerten.

Bekannt ist …, dass eine reine Wissensvermittlung das ärztliche Handeln kaum beeinflusst. Prof. Dr. Attila Altiner

In jeder der ins Review eingeschlossenen Studien wurde bei einer Gruppe mittels unterschiedlicher Maßnahmen die Arzt-Patienten-Kommunikation gefördert und die Zahl der Antibiotikaverordnungen mit einer Kontrollgruppe ohne spezielle Unterweisungen verglichen (primärer Endpunkt des Reviews). Außerdem dokumentierten die Cochrane-Autoren klinisch relevante Nebenwirkungen (z.B. Krankenhauseinweisungen und Todesfälle), die Patientenzufriedenheit und eventuelle Kolonisationen oder Infektionen mit einem Antibiotika-resistenten Erreger.

In den Interventionsgruppen wurde zum einen das Wissen der beteiligten Hausärzte zu akuten Atemwegsinfektionen (z.B. Wahrscheinlichkeit einer bakteriellen oder viralen Infektion, Nutzen-Risiko-Abwägung von Antibiotika-Behandlungen und anderer Behandlungsoptionen) aufgefrischt. Zum anderen wurden die Mediziner kommunikativ geschult, um beispielsweise besser mit Befürchtungen und Erwartungen der Patienten umgehen, sich über Symptome und den natürlichen Krankheitsverlauf austauschen und eine Übereinkunft zum zukünftigen Behandlungsplan treffen zu können.

Das fachliche Wissen und die kommunikativen Kenntnisse der Hausärzte wurden dabei mal in Workshops oder Seminaren, mal über webbasierte Plattformen vermittelt. Mehrfach eingesetzt wurden zudem Videos sowie interaktive Übungen oder Entscheidungshilfen. Weitere Komponenten konnten simulierte Patienten-Konsultationen oder die Vermittlung von Trenddaten zu Antibiotikaresistenzen sein.

Darüber hinaus implementierten verschiedene Studien zusätzliches Infomaterial für Patienten, etwa Broschüren im Wartezimmer oder interaktive Tools, die bei den jeweiligen Konsultationen eingesetzt werden konnten.

39 Prozent weniger Antibiotikaverordnungen durch gemeinsame Therapieentscheidungen

Am Ende zeigte sich, dass die Rate der Antibiotikaverschreibungen in den Interventionsgruppen innerhalb von 6 Wochen nach der ersten ärztlichen Konsultation um 39% niedriger lag als in den Kontrollgruppen. In letzteren erhielten 47 von 100 Patienten die antimikrobiellen Wirkstoffe, die kommunikativ geschulten Ärzte verschrieben dagegen nur 29 von 100 Patienten Antibiotika. Die Zahl der Re-Konsultationen stieg durch die geringere Verschreibungsrate nicht an. Außerdem zeigten sich die Patienten der Interventionsgruppen genauso zufrieden mit den Konsultationen wie die Studienteilnehmer in den Kontrollgruppen.

Die Ergebnisse des Reviews zeigen, dass weniger Antibiotika bei akuten Atemwegsinfektionen verschrieben werden könnten, wenn mehr Patienten und Ärzte gemeinsam entscheiden würden. Prof. Dr. Tammy C. Hoffmann

Noch nicht fest steht allerdings, ob die Ergebnisse auch bei Langzeit-Follow-ups reproduzierbar wären, schreiben die Autoren um Coxeter. Aussagen über klinisch relevante Nebenwirkungen oder Auswirkungen auf die Entwicklung von Antibiotikaresistenzen könnten anhand der vorliegenden Informationen ebenfalls noch nicht gemacht werden.

Zukünftige Studien müssten zudem die Effektivität der einzelnen Interventionen und der verschiedenen kommunikativen Techniken genauer untersuchen, um herauszufinden, welche Aspekte den größten Benefit versprechen.

Studenten sensibilisieren – Mediziner weiterbilden

Trotzdem: „Die Ergebnisse des Reviews zeigen, dass weniger Antibiotika bei akuten Atemwegsinfektionen verschrieben werden könnten, wenn mehr Patienten und Ärzte gemeinsam entscheiden würden“, kommentierte die Epidemiologin Prof. Dr. Tammy C. Hoffmann, Co-Autorin und Kollegin Coxeters an der Bond University, die neuen Resultate.

Dem stimmt auch Altiner zu. Er ergänzt, dass sich die partizipative Entscheidungsfindung auch bei anderen Krankheitsgeschehen, besonders wenn verschiedene gleichwertige Behandlungsoptionen bestünden, bewährt habe. Zugleich wachse die Bereitschaft der Ärzte stetig, die neuen Kommunikationsstrategien anzuwenden.

Für systemimmanente Änderungen sei es aber notwendig, bereits Studierende für das Thema zu sensibilisieren, sagt der Rostocker Facharzt. Ferner müssten die Kommunikationsstrategien im Rahmen der ärztlichen Facharztweiterbildung erlernt werden – und zwar nicht in Form von konventioneller Wissensvermittlung, betont Altiner, sondern in konkreten Kommunikationsübungen.

REFERENZEN:

1. Coxeter P, et al: Cochrane Database Syst Rev. (online) 12. November 2015

Kommentar

3090D553-9492-4563-8681-AD288FA52ACE
Wir bitten darum, Diskussionen höflich und sachlich zu halten. Beiträge werden vor der Veröffentlichung nicht überprüft, jedoch werden Kommentare, die unsere Community-Regeln verletzen, gelöscht.

wird bearbeitet....