
Prof. Dr. Markolf Hanefeld
Epidemiologische Daten weisen auf ein geringeres Darmkrebsrisiko unter dem Alpha-Glukosidase-Hemmer Acarbose bei Typ-2-Diabetikern hin. Eine Studie von Dr. Yao-Hsien Tseng vom Institute of Occupational Medicine and Industrial Hygiene am National Taiwan University College of Public Health in Taipeh, Taiwan, „zeigt beeindruckende Zahlen“, wie Prof. Dr. Markolf Hanefeld gegenüber Medscape Deutschland bestätigt. Der Seniordirektor des Studienzentrums GWT an der TU Dresden bezeichnet die Arbeit als „valide nationale Studie mit sehr großen Zahlen ohne Selektionsbias und mit bedeutsamer Relevanz“.
Bis zu 54 Prozent weniger Kolonkarzinome
Für ihre landesweite, populationsbasierte epidemiologische Studie nutzten Tseng und sein Team die Daten einer Kohorte aus der Taiwan National Health Insurance Research Database [1]. Von ca. 25 Millionen Einwohnern wurden 1,34 Millionen neu diagnostizierte Diabetiker zwischen 1998 und 2010 in die Studie eingeschlossen, 240.000 – also 18% – erhielten Acarbose.
In einer Matched-pair-Analyse wurden 199.296 Patienten mit Acarbose als first line drug mit Patienten mit verglichen, die andere First-line-Medikamente erhielten. In rund 1,5 Millionen Personenjahren traten 1.332 neue Kolonkarzinome auf.
Durchschnittlich war das Risiko an Darmkrebs zu erkranken, bei den Acarbose-Patienten um 27% reduziert. Die Auswertung belegt zudem eine eindeutige Dosis-Wirkungs-Beziehung: Je höher die Dosis, desto geringer die Krebshäufigkeit. Für Patienten mit kumulierten definierten täglichen Dosen (DDD) von unter 90, 90 bis 364 bzw. mindestens 365 mg im Vergleich zu Patienten, die keine Acarbose erhielten, betrugen die adjustierten Hazard Ratios 0,73 (95%-Konfidenzintervall: 0,63–0,83), 0,69 (95%-KI: 0,59–0,82) und 0,46 (95%-KI: 0,37–0,58)
„Die Patienten mit der höchsten Acarbose-Dosis, also diejenigen, die 300 mg oder mehr erhielten, wiesen eine Reduktion um 54 Prozent auf. Das ist schon eine ganz eindrucksvolle Reduktion neuer Kolonkarzinome, die so bisher für kein Antidiabetikum berichtet wurde“, erklärt Hanefeld.
Acarbose führt in Deutschland ein Nischendasein – zu Unrecht?
Während in China und Taiwan rund 20% der Diabetiker mit Acarbose behandelt werden, führt das Antidiabetikum mit Anwendungsraten zwischen 3 und 5% in Deutschland ein Nischendasein. Zu Unrecht, wie Hanefeld meint, der viel zu Acarbose geforscht hat und an der Einführung der Substanz maßgeblich beteiligt war.
Gegenwärtige Studien an Dünndarm- und Kolonbiopsaten von Patienten mit Typ-2-Diabetes unter der Leitung von Hanefeld stützen die Beobachtungen, dass Acarbose direkte antiinflammatorische und antikanzerogene Potenzen besitzt.
Die Studienergebnisse sieht er als guten Anlass, Acarbose wieder mehr in der Therapie einzusetzen. Dass die Verordnung des Mittels deutlich abgenommen hat, führt Hanefeld auch darauf zurück, dass man seinerzeit mit sehr hohen Dosen gestartet ist: „Die lagen bei 300 und bis zu 600 mg pro Tag. Das hat natürlich massive Nebenwirkungen nach sich gezogen. Heute hingegen ist der Ansatz bei den Antidiabetika ja ein anderer: Man setzt auf ‚start low and go slow‘.“
Ein anderer Grund dafür, dass Acarbose in den Hintergrund getreten ist, seien auch die neuen inkretinbasierten Mittel: „Und die weisen schon deutlich weniger Nebenwirkungen als Acarbose auf.“ Prinzipiell kann Acarbose aber mit allen Antidiabetika kombiniert werden.
Häufige Nebenwirkungen sind Flatulenz und Durchfall, seltener Bauchschmerzen und gelegentlich Übelkeit. Diese treten vor allem bei Behandlungsbeginn und bei zu hoher Dosis auf. Infrage kommt Acarbose nach Hanefelds Erfahrung bei Metformin-Unverträglichkeit als first line drug oder in Kombination mit Metformin. „Acarbose und Metformin ist meine Favoritenkombination, wenn Metformin alleine nicht mehr ausreicht.“
Glibenclamid erhöht das Krebsrisiko: Frühzeitige Umstellung empfiehlt sich
Im Gegensatz zu Acarbose scheint unter dem Sulfonylharnstoff Glibenclamid das Darmkrebsrisiko bei Typ-2-Diabetikern eher erhöht zu sein. Dies zeigen epidemiologische Daten von Dr. Marco Tuccori vom Centre for Clinical Epidemiology am Jewish General Hospital, Montreal, Canada [2]. Tuccori und sein Team stellten aus Daten der U.K. Clinical Practice Research Datalink eine Kohortenstudie mit 52.600 Patienten zusammen. Diese hatten im Zeitraum 1988 bis Juli 2013 entweder Glibenclamid oder Sulfonylharnstoffe der zweiten Generation erhalten.
Im Verlauf von 280.288 Personenjahren des Follow-up wurde bei 4.105 Patienten Krebs diagnostiziert (Inzidenzrate 14,6 auf 1.000 Personenjahre). Insgesamt und im Vergleich mit der Gabe von Sulfonylharnstoffen der 2. Generation war der Einsatz von Glibenclamid assoziiert mit einem nicht signifikanten erhöhten Krebsrisiko (HR: 1,09; 95%-KI: 0,98–1,22).
In zusätzlichen Analysen zeigten sich auch hier dauer- und dosisabhängige Zusammenhänge. Bei längerer Dauer und höheren Dosen war auch das Krebsrisiko höher. Wurde Glibenclamid mehr als 36 Monate verabreicht, stieg die HR auf 1,21 und war signifikant (95%-KI: 1,03-1,42).
„Unseres Wissens nach ist diese Studie die größte, die speziell die Assoziation zwischen dem Einsatz von Glibenclamid und der Krebsinzidenz bei Typ-2-Diabetikern untersucht hat“, schreibt Tuccori.
Zu dieser Arbeit gibt Hanefeld zu bedenken, dass die Therapie mit Glibenclamid ohnehin nicht mehr den Empfehlungen von ADA und EASD für eine Patienten-zentrierte Therapie entspricht, andererseits Sulfonylharnstoffe aber auch vielfach geradezu dämonisiert würden. „Bedenken sollte man auch“, fügt er hinzu, „dass sich ein erhöhtes Krebsrisiko unter Glibenclamid erst bei hohen Dosierungen über zehn Milligramm bemerkbar machte, und auch da war es nur knapp signifikant.“ In Deutschland wird Glibenclamid generell selten höher als mit 5 mg pro Tag dosiert.
Hinzu kommt, dass im Gegensatz zu den USA, wo Glibenclamid noch immer bei 15% der Bevölkerung eingesetzt wird, der Wirkstoff in Deutschland durch Glimepirid nahezu abgelöst worden ist. Die Studienergebnisse wertet Hanefeld als „Warnsignal, dass Glibenclamid nicht zu lange gegeben werden sollte und dass bei Patienten, die damit schlecht eingestellt sind, besser frühzeitig auf ein anderes Mittel umgestellt werden sollte.“
REFERENZEN:
1. Tseng YH, et al: Diabetes Care 2015;38:2068-2074
2. Tuccori M, et al: Diabetes Care 2015;38:2083-2089
Diesen Artikel so zitieren: Krebsrisiko von Diabetikern: Unter Acarbose erniedrigt, unter Glibenclamid erhöht - Medscape - 17. Nov 2015.
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