MEINUNG

SPRINT-Studie zu Bluthochdruck: „Zu groß und zu bedeutend, um keinen Einfluss auf den Zielblutdruck zu nehmen”

Ute Eppinger

Interessenkonflikte

16. November 2015

Prof. Dr. Ulrich Kintscher

Wegen „möglicherweise lebensrettenden Informationen” war die SPRINT-Studie ein Jahr vor dem geplanten Abschluss abgebrochen worden. SPRINT gilt als Meilensteinstudie und zeigt: Nicht mehr 140/90 mmHg, sondern ein systolischer Blutdruck von unter 120 mmHg dürfte demnächst wohl das Ziel für viele Hypertoniker sein. Medscape Deutschland sprach mit Prof. Dr. Ulrich Kintscher vom Center for Cardiovascular Research (CCR) und Leiter der Clinical Trial Management Unit (CTMU) der Charité Berlin über die klinischen Folgen der SPRINT-Studie.

Medscape Deutschland: Wie wirken sich die SPRINT-Ergebnisse auf die europäischen Leitlinien aus?

Prof. Dr. Kintscher: Die Ergebnisse der SPRINT-Studie werden die Zielblutdruck-Diskussionen nicht komplett neu beginnen, aber zumindest für die untersuchte Patientenpopulation aufrollen. Gerade für die Hochrisikopatienten liefert SPRINT beeindruckende Daten und das wird die Leitlinien beeinflussen. In welche Richtung das gehen wird und für welche Patientenpopulationen genau das Gültigkeit haben wird, das kann jetzt noch keiner voraussagen. Das wird sich in den Leitlinien-Diskussionen ergeben. Der Einfluss dürfte aber dahingehend sein, dass die bisherigen Zielblutdruckwerte korrigiert werden. Davon gehe ich aus. Schließlich gibt es nicht viele prospektiv-randomisierte Studien, die sich – so wie SPRINT – ausschließlich mit der Frage des Zielblutdrucks beschäftigt haben. Die Studie ist zu groß und zu bedeutend, um keinen Einfluss darauf zu nehmen.

Medscape Deutschland: Diabetiker und Schlaganfall-Patienten waren ausgeschlossen – heißt das, dass es für diese Patienten bei den „alten“ ESH-Zielen von unter 140 mmHg bleibt?

Prof. Dr. Kintscher: Ich kann nicht die Meinung der Leitlinien-Kommission vorwegnehmen. Meiner persönlichen Meinung nach: ja. Ich bin hier konservativ und halte mich immer an die Populationen und an die Evidenz, die aus den Studien kommt. Und da Diabetiker und Schlaganfall-Patienten in SPRINT explizit ausgeschlossen waren, würde ich sagen, dass sich bei diesen Patienten erst einmal nichts ändern sollte.

Gerade für die Hochrisikopatienten liefert SPRINT beeindruckende Daten und das wird die Leitlinien beeinflussen. Prof. Dr. Ulrich Kintscher

In einigen Foren und Kommentaren zu den Ergebnissen wurde jetzt die ACCORD-Studie noch mal diskutiert, da sie statistisch zwar underpowered waren, aber die Ergebnisse eigentlich vergleichbar sind mit denen der SRINT-Studie. Die ACCORD-Ergebnisse sind damals interpretiert worden und in die Leitlinien eingeflossen. Und ich sehe derzeitig keinen Anlass, die Erkenntnisse daraus aufgrund der SPRINT-Daten infrage zu stellen.

Medscape Deutschland: Wann beginnt die Überarbeitung der ESH-Leitlinie und wann rechnen Sie mit dem Abschluss der Überarbeitung?

Prof. Dr. Kintscher: Die europäischen Leitlinien wurden 2013 überarbeitet, 2014 folgten in der  Deutschen Hochdruckliga die Pocket-Leitlinien. Ich denke, dass man sich 2016 zusammensetzen wird. Das wird dann keine komplette Überarbeitung der Leitlinie werden, es gab seitens der ESH ja auch schon in der Vergangenheit sog. Reappraisals, d.h. aktuelle Zusätze zu Themengebieten, bei den neue Studiendaten vorlagen. Wie lange das dauern wird ist schwer zu sagen – ich glaube aber schon, dass man im Laufe des Jahres 2016 zu einem Konsens kommt. Letztlich sollen die Ergebnisse neuer Studien ja zügig in die Praxis umgesetzt werden.

Medscape Deutschland: Bei Patienten ohne vorbestehende Nierenerkrankung war in der intensiv behandelten Gruppe die Rate derjenigen, bei denen die eGFR um mehr als 30% abnahm und damit unter 60 ml/min fiel, um mehr als das Dreifache erhöht (3,8 vs 1,1%). Die Autoren führen das auf einen reversiblen intrarenalen hämodynamischen Effekt der stärkeren Blutdrucksenkung zurück und schreiben, dass die Daten keine Hinweise auf wesentliche permanente Nierenschädigungen liefern. Ist mit permanenten Schädigungen zu rechnen, wenn die Intensivtherapie andauert?

Prof. Dr. Kintscher: Im medianen Follow-up von 3,3 Jahren kann man den Studienautoren folgen und sagen, dass es sich wahrscheinlich um  intrarenale hämodynamische Effekte handelt. Inwieweit sich das langfristig bei einer intensivierten Therapie auf die Nierenfunktion auswirken wird kann man schwer voraussagen. Man sollte das aber als wichtiges Anzeichen zur Kenntnis nehmen und darauf unbedingt achten.

Eine intensivierte Blutdrucktherapie erfordert ohnehin eine sehr enge Zusammenarbeit mit dem Patienten. Prof. Dr. Ulrich Kintscher

Medscape Deutschland: Dennoch dürfte es unwahrscheinlich sein, dass höhere Nebenwirkungsraten den Gesamtnutzen der weiteren Blutdrucksenkung nachhaltig schmälern, oder?

Prof. Dr. Kintscher: Ja – ich glaube nicht, dass die Nebenwirkungsrate den eigentlichen Benefit der Therapie übertrifft und dass man die Therapie deshalb nicht einsetzen würde. Eine intensivierte Blutdrucktherapie erfordert ohnehin eine sehr enge Zusammenarbeit mit dem Patienten. Da geht man eine Art „shared decision“ ein. Man muss die Patienten dabei sehr individualisiert behandeln.

Nehmen wir einen Patienten mit systolisch 140 mmHg. In SPRINT waren die Patienten im Durchschnitt gut eingestellt, sie nahmen im Schnitt 1,8 Antihypertensiva. Bei solchen Patienten handelt es sich ja auch um ein spezielles Patientenkollektiv. Man hat also einen Patienten vor sich, der eigentlich gut eingestellt ist und schon zwei Tabletten nimmt. Mit einem solchen Patienten sollte man besprechen, dass es in naher Zukunft neue Empfehlungen für ihn gibt. Die zu klärenden Fragen sind: Senken wir den Blutdruck noch tiefer? Wie verträgt der Patient die Therapie überhaupt? Hatte der Patienten zuvor schon Probleme aufgrund von Hypotonien oder Schwindelanfällen? Und in einem solchen Kontext spielt dann auch die Nierenfunktion eine Rolle.

Medscape Deutschland: Die „Ein Wert für alle“-Anpassung 2013 entstand ja auch vor dem Hintergrund, dass Zielwerte von 130/80 mmHg selten erreicht werden. Daran hat sich doch nichts geändert. Wie realistisch ist eine weitere Senkung?

Prof. Dr. Kintscher: Ich habe diesen „Ein Wert für alle“ sehr begrüßt und in der Kommunikation mit den Patienten als sehr hilfreich betrachtet. Ich sah darin fast eine Art Stufenplan. Das heißt: Wir müssen erst einmal bessere Kontrollwerte für 140/90 mmHg haben. Die Werte sind auch besser geworden – nach den letzten Erhebungen erreichen 50 Prozent der therapierten Patienten ihren Zielwert. Aber es ist eben immer noch nur die Hälfte.

Man muss erst nochmals genau auf die Studienergebnisse schauen, welche Patienten überhaupt gemeint sind. Prof. Dr. Ulrich Kintscher

Ich denke schon, dass eine weitere Senkung schwierig wird – und das gilt nicht nur für die Ärzte-, sondern auch für die Patientenseite. Denn die Patienten sind mit den in der Studie aufgetauchten Nebenwirkungen konfrontiert. Der Arzt muss das dem Patienten gut erklären.

Medscape Deutschland: Erfordert das Erreichen noch niedrigerer Zielwerte nicht auch noch stärkere Umstellungen in der Lebensführung (Gewichtsabnahme, Bewegung etc.), mehr Patientenkontakte und ein engeres ärztliches Monitoring?

Prof. Dr. Kintscher: Ja, das ist richtig. Letztendlich geht das noch mehr in Richtung Selbstmessung, man könnte dem Patienten noch mehr Selbstverantwortung übertragen. Richtig ist, dass ein Erreichen der Zielwerte einer größeren Kontrolle und einem intensivierten Monitoring bedarf. Doch in Zeiten der Selbstmessung und der Telemedizin würde ich das nicht als problematisch erachten.

Medscape Deutschland: Was raten Sie den niedergelassenen Kollegen? Sollten die erst mal abwarten oder schon mal die Patienten darauf vorbereiten, dass eine weitere Blutdrucksenkung womöglich sinnvoll sein könnte?

Prof. Dr. Kintscher: Ich denke, man sollte da erst mal abwarten für welche Patienten welche Empfehlungen gelten werden. Schaut man sich die Patientenpopulation noch mal genau an, wird auch von den Autoren betont, dass es über 75jährige waren, die da eingeschlossen waren. Doch deren Anteil macht lediglich 30 Prozent aus. Wenn man sich anschaut, was das für Hochrisikopatienten waren, dann hatten nur 20 Prozent der Patienten aus dieser Hochrisikogruppe eine kardiovaskuläre Erkrankung. Das heißt also, dass die anderen Patienten aus anderen Gründen in die Hochrisikogruppe fielen – beispielsweise altersbedingt oder aufgrund ihrer Lipidwerte. Man muss also erst nochmals genau auf die Studienergebnisse schauen, welche Patienten überhaupt gemeint sind und für welche Patienten das dann gilt. Deshalb sollte man besser die Leitlinien-Überarbeitung abwarten.

Medscape Deutschland: Herzlichen Dank für das Gespräch.

REFERENZEN:

1. The SPRINT Research Group: NEJM (online) 9. November 2015

Kommentar

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