SPRINT-Studie definiert die Therapieziele beim Bluthochdruck neu – 140 ist für viele nicht mehr gut genug

Sonja Boehm

Interessenkonflikte

10. November 2015

Orlando – Diese Studie wird zu einer Änderung der Leitlinien führen. Darüber herrscht unter Experten Einigkeit: Die bei den American Heart Association (AHA) Scientific Sessions in Orlando, Florida, in einer Extra-Sitzung präsentierte SPRINT(Systolic Blood Pressure Intervention Trial)-Studie wird die Empfehlungen für die Blutdruckziele in der antihypertensiven Therapie verändern [1]. Nicht mehr 140/90 mmHg, was bislang für die meisten Patienten als ausreichend galt, sondern ein systolischer Blutdruck von unter 120 mmHg wird demnächst wohl das Ziel für viele Hypertoniker sein.

Die Präsentation der SPRINT-Studie war eindeutig das Highlight der diesjährigen AHA-Tagung. 75 Minuten waren den Vorträgen und der Diskussion zu dieser Studie am Montagnachmittag gewidmet. Zeitgleich wurde die Studie im New England Journal of Medicine, begleitet gleich von mehreren einordnenden Artikeln und Kommentaren, publiziert [2].

Prof. Dr. Martin Hausberg

„Die SPRINT-Studie wird Einfluss auf die Leitlinien weltweit haben“

Die endgültigen Ergebnisse waren weltweit – auch in Deutschland – mit Spannung erwartet worden, nachdem die Studie im September vorzeitig beendet worden war und erste vorläufige Daten auf einer Pressekonferenz vorgestellt worden waren (wie Medscape Deutschland berichtete ). „Es handelt sich um eine Meilensteinstudie“, lautet denn auch die Einschätzung von Prof. Dr. Martin Hausberg, Vorstandsvorsitzender der Deutschen Hochdruckliga (DHL). „Sie hat eine Frage geprüft, die bisher so nicht untersucht worden war. Sie ergänzt ein wesentliches Stück Evidenz, das uns bisher in der Hochdruckbehandlung gefehlt hat“, sagt der Facharzt für Innere Medizin/Nephrologie und Direktor der Medizinischen Klinik I am Städtischen Klinikum Karlsruhe im Gespräch mit Medscape Deutschland.

Und auch er ist sich sicher: „Diese Studie wird Einfluss auf die Leitlinien weltweit haben – in welcher Form genau, ist zwar noch nicht klar – doch sie wird ohne Zweifel Einfluss nehmen.“

Die bislang fehlende Evidenz, die Hausberg anspricht, betrifft das optimale systolische Blutdruckziel einer antihypertensiven Behandlung – dies vor allem für Hochrisiko-Patienten ohne Diabetes mellitus. Mit Diabetespatienten gab es dagegen einige Studien, unter anderem den Hochdruck-Arm der ACCORD-Studie. Dessen Ergebnisse hatten jedoch dazu geführt, dass die Blutdruckziele für Diabetiker eher gelockert wurden, denn es war nicht gelungen, einen signifikanten Nutzen einer Blutdrucksenkung unter das allgemein empfohlene systolische Blutdruckziel von 140 mmHg nachzuweisen.

 
Es handelt sich um eine Meilensteinstudie. Sie ergänzt ein wesentliches Stück Evidenz, das uns bisher in der Hochdruckbehandlung gefehlt hat. Prof. Dr. Martin Hausberg
 

So waren in SPRINT nun Diabetiker explizit ausgeschlossen, ebenso Patienten mit einem vorangegangenen Schlaganfall. Dagegen war mit jeweils rund 28% der Anteil der 75-Jährigen oder Älteren sowie der Patienten mit  vorbestehender Nierenerkrankung relativ hoch. Insgesamt umfasste SPRINT 9.361 Teilnehmer mit einem systolischen Ausgangsblutdruck über 130 mmHg und erhöhtem kardiovaskulärem Risiko (10-Jahres Risiko nach Framingham-Score von mindestens 15%).

Die Patienten wurden in 2 Gruppen randomisiert und erhielten entweder eine antihypertensive Standard-Behandlung (systolisches Blutdruckziel unter 140 mmHg) oder eine intensive Therapie, bei der das Ziel ein systolischer Blutdruck unter 120 mmHg war. SPRINT war eine unabhängige Studie, finanziert von den US-amerikanischen National Institutes of Health (NIH).

Um 25 Prozent niedrigere kardiovaskuläre Ereignisrate, um 27 Prozent geringere Gesamtmortalität

Geplant war eine mediane Beobachtungszeit von 5 Jahren, abgebrochen wurde die Studie dann jedoch bereits, nachdem die Patienten im Median erst 3,26 Jahre beobachtet worden waren. Das Data and Safety Monitoring Board gab das Signal für den Stopp, weil bereits zu 2 Zeitpunkten in Folge die Daten eine klare Überlegenheit der intensiven Blutdruckkontrolle belegt hatten.

Die Ergebnisse im Einzelnen:

  • • Im primären kombinierten Endpunkt aus Herzinfarkt, akutem Koronarsyndrom, Schlaganfall, Herzinsuffizienz oder Tod aus kardiovaskulärer Ursache unterschieden sich die beiden Gruppen um relativ 25% (Ereignisrate 1,65% pro Jahr unter intensiver Blutdruckkontrolle, 2,19% pro Jahr unter Standardtherapie; 95%-Konfidenzintervall: 0,64-0,89; p < 0,001).

  • • Die Gesamtsterberate war unter intensiver Therapie um relativ 27% niedriger (155 vs 210 Todesfälle, 95%-KI: 0,6-0,9; p = 0,003). Das Risiko für einen Tod aus kardiovaskulärer Ursache unterschied sich sogar um relativ 43%; (p = 0,005).

  • • Die Autoren berechnen aufgrund dieser Zahlen eine Number Needed to Treat (NNT) von 61, um über den Studienzeitraum von 3,26 Jahren ein Ereignis des primären Endpunktes zu verhindern, eine NNT von 90 um einem Todesfall und von 172, um einem Tod aufgrund kardiovaskulärer Ursache vorzubeugen.

  • • Gleichzeitig kamen in der intensiv behandelten Gruppe aber auch einige unerwünschte Ereignisse vermehrt vor – darunter Hypotonie (2,4 vs 1,4%), Synkopen (2,3 vs 1,7%), Elektrolytabweichungen (3,1 vs 2,3%) und akute Nierenschädigungen bzw. renale Funktionsstörungen (4,1 vs 2,5%). Eine höhere Rate von Stürzen mit Verletzungsfolgen wurde aber nicht dokumentiert.

Die erreichten systolischen Blutdruckwerte betrugen bei intensiver Therapie im Schnitt 121,4 mmHg und bei Standardtherapie 136,2 mmHg, die diastolischen Werte lagen bei 68,7 bzw. 76,3 mmHg. Um diese Ziele zu erreichen, waren im Mittel 2,8 bzw. 1,8 unterschiedliche Antihypertensiva notwendig. Als Ausgangswerte hatten die Patienten im Mittel einen Blutdruck von 140/78 mmHg gehabt. Neben Diabetikern und Patienten nach Schlaganfall waren auch Patienten mit schwer einzustellendem Hypertonus sowie Bewohner von Pflegeheimen von der Studienteilnahme ausgeschlossen.

 
Ich finde es überraschend, dass der Hauptbenefit im primären Endpunkt nicht über die Schlaganfallreduktion vermittelt wurde. Prof. Dr. Martin Hausberg
 

„Überraschende“ Ergebnisse bei Schlaganfall- und Herzinsuffizienzraten

Die Abwägung von Nutzen und Risiken der intensiven Blutdrucksenkung müsse nun durch die medizinische Fachwelt erfolgen, sagte Studienleiter Prof. Dr. Jackson T. Wright, Case Western Reserve University, Cleveland, Ohio, bei der Präsentation in Orlando. Er und die anderen Autoren stellten lediglich die Daten bereit. „Ich bin sehr zuversichtlich, dass nun, nachdem alle Details der Daten zugänglich sind, die Versorger, die Fachgesellschaften und Leitlinien-Komitees diese – gemeinsam mit der anderen verfügbaren Evidenz – gewichten und zu einem Ergebnis gelangen, was dies für die Praxis des Hypertonie-Managements bedeutet.“

Und auch Hausberg betont: „Bei der DHL müssen wir diese Ergebnisse nun detailliert evaluieren und die neue Evidenz in den bisherigen Kontext einordnen.“ Er räumt auch ein: „Das wird etwas dauern.“

Hausberg verweist jedoch auf einige Aspekte in der Publikation, die ihm spontan auffallen: „Überraschend war für mich, dass die Zahl der Stürze nicht signifikant erhöht war. Überraschend finde ich auch, dass der Hauptbenefit im primären Endpunkt nicht über die Schlaganfallreduktion vermittelt wurde – die Schlaganfallhäufigkeit unterschied sich zwischen den beiden Gruppen kaum – eine große signifikante Differenz dagegen beim Endpunkt Herzinsuffizienz nachweisbar war.“ Vielleicht sei dies auf einen vermehrten Einsatz potenter Diuretika in der intensiv behandelten Gruppe zurückzuführen, spekuliert er.

Doch um dies zu beurteilen, sei ein tieferer Blick in die Daten notwendig. Ähnliches gelte für die renalen Endpunkte. So war –– dies aber nur bei Patienten ohne vorbestehende Nierenerkrankung – in der intensiv behandelten Gruppe die Rate derjenigen, bei denen die eGFR (estimated Glomerular Filtration Rate) um mehr als 30% abnahm und damit unter 60 ml/min fiel, um mehr als das Dreifache erhöht (3,8 vs 1,1%).

Diskussion um negative Effekte der intensiven Blutdrucksenkung auf die Niere

Die SPRINT-Autoren schreiben in ihrer Publikation, dass es sich hier um einen reversiblen intrarenalen hämodynamischen Effekt der stärkeren Blutdrucksenkung und des vermehrten Einsatzes von Diuretika, ACE-Hemmern und Angiotensin-Rezeptorblockern in der Intensiv-Gruppe handeln könne. Nach ihren bisherigen Daten gebe es keine Hinweise auf wesentliche permanente Nierenschädigungen – trotzdem könnten langfristige ungünstige Folgen der intensiven Blutdrucksenkung auf die Niere nicht vollkommen ausgeschlossen werden.

 
Es ist unwahrscheinlich, dass die höheren Nebenwirkungsraten der intensiven Blutdrucksenkung deren Gesamtnutzen aufwiegen. Prof. Dr. Vlado Perkovic und Prof. Dr. Anthony Rodgers
 

Auch Hausberg weist gegenüber Medscape Deutschland darauf hin, dass aufgrund der bekannten Assoziation zwischen Nierenfunktionseinschränkungen und einem erhöhten kardiovaskulären Risiko, es nicht auszuschließen sei, dass der nach 3 Jahren in SPRINT so eindeutig gezeigte günstige kardiovaskuläre Effekt der intensiven Blutdrucksenkung durch langfristige negative renale Effekte abgeschwächt werden könne.

Und die Umsetzung in die Praxis?

Kernpunkt in den Diskussionen beim AHA-Kongress, aber auch in den begleitenden Kommentaren im NEJM ist natürlich die Frage, was dies nun für die Praxis bedeutet. „SPRINT liefert nun die Evidenz für einen Nutzen niedrigerer systolischer Blutdruckziele, wie sie bisher für die meisten Patienten mit Hypertonie empfohlen werden“, heißt es in der SPRINT-Publikation. „Die Ergebnisse werden sicher weitreichende Implikationen haben“, betonen auch Prof. Dr. Vlado Perkovic und Prof. Dr. Anthony Rodgers, George Institute for Global Health, University of Sydney, in einem begleitenden Editorial [3].

Nach ihrer Ansicht ist es „unwahrscheinlich, dass die höheren Nebenwirkungsraten der intensiven Blutdrucksenkung deren Gesamtnutzen aufwiegen“. Besonders in den USA, wo bei der letzten Revision der Leitlinien für Hypertoniker ab dem 60. Lebensjahr sogar ein systolisches Blutdruckziel von 150 mmHg ausgegeben worden war, aber auch weltweit, benötigten die Leitlinien nun eine Revision. Die SPRINT-Studie unterstütze eine Pharmakotherapie, die sich am absoluten Risiko der Behandelten orientiere, schreiben die beiden Experten und SPRINT zeige: „Für Menschen mit hohem kardiovaskulärem Risiko ist ein systolisches Ziel von unter 120 mmHg adäquat.“

Dieses Ziel zu erreichen bedürfe aber erheblicher Anstrengungen, häufiger ärztlicher Kontrollen, intensiver Lebensstilmodifikationen und einer intensiven medikamentösen Therapie mit Antihypertensiva-Kombinationen. Das Fazit ihres Kommentars, der unter dem Titel steht: „Neudefinition der Blutdruckziele – SPRINT startet den Marathon: „Der Erfolg wird Marathon-Bemühungen erfordern.“

In einem ebenfalls im NEJM erschienenen Perspektiven-Artikel nimmt Dr. Aram V. Chobanian vom Boston University Medical Center nach eigenem Bekunden „einen mehr konservativen Blick“ ein [4]. Er erinnert daran, dass sogar bei einem systolischen Blutdruckziel von unter 140 mmHg ein Drittel bis die Hälfte der Hypertoniker in den USA als „nicht kontrolliert“ gelten. Und dass in der SPRINT-Studie die intensiv Behandelten im Schnitt 3 Antihypertensiva erhielten – aber trotzdem ein beträchtlicher Teil den Zielwert nicht erreichte. Eine Strategie wie in SPRINT mit so niedrigen Zielwerten erfordere ein engeres ärztliches Monitoring und mehr Patientenkontakte als bislang üblich, betont auch er.

 
Es wird uns weitere wesentliche Anstrengungen kosten, wird aber grundsätzlich möglich sein, auch neue striktere Ziele zu verfolgen. Prof. Dr. Martin Hausberg
 

Hausberg ist hier optimistischer: „Die Umsetzung in die Praxis wird eine große Herausforderung für uns alle“, räumt er ein. Doch bereits in den letzten Jahren seien europaweit große Fortschritte gemacht worden, was die Blutdruckkontrolle angehe: „Wir haben heute Kontrollraten von 50 Prozent – natürlich bei einem Ziel von 140/90 mmHg. Wenn man nur die medikamentös Behandelten betrachtet, liegen die Kontrollraten sogar bei 70 Prozent nach den neuesten Daten. Es wird uns weitere wesentliche Anstrengungen kosten, wird aber grundsätzlich möglich sein, auch neue striktere Ziele zu verfolgen“, meint er.

„Entscheidend wird aber sein, die Patienten wegen der möglichen Nebenwirkungen einer intensiven antihypertensiven Therapie engmaschiger zu beobachten, als das derzeit bei Patienten mit Bluthochdruck im Allgemeinen der Fall ist“, betont Hausberg. „Ohne die engmaschige Kontrolle könnten die Nebenwirkungen der intensiven Blutdrucksenkung schwerwiegende Folgen haben, die unter den Studienbedingungen glücklicherweise nicht aufgetreten sind.“

Für wen gelten die neuen strikten Blutdruckziele? Für Diabetiker auf jeden Fall nicht …

Eine andere wichtige Frage sei natürlich, auf wen die neuen strikten Ziele anzuwenden seien. „Nicht auf Patienten in Pflegeheimen – und das sind schon einige – nicht auf diejenigen mit Grad 3 oder therapieresistenter Hypertonie, nicht auf die Schlaganfall-Patienten und nicht auf die Diabetiker“, zählt Hausberg die in der Studie nicht eingeschlossenen Populationen auf. Eine paradoxe Situation könnte sich nun für die Diabetiker ergeben, für die bislang aufgrund ihres hohen kardiovaskulären Risikos immer besonders niedrige Werte empfohlen wurden. Jetzt besteht aber die Situation, dass genau für diese besonders gefährdete Patientengruppe keine Evidenz vorliegt, dass sie von niedrigen Blutdruckzielen profitieren.

Dies bemängeln auch internationale Kommentatoren. So schreibt Dr. Murray Esler, Baker IDI Heart and Diabetes Institute, Melbourne, Australien, in einem Editorial in Hypertension, dass durch den Ausschluss aus der Studie für diese Patientengruppe „ein schwarzes Loch“ entstanden sei, das die Übertragbarkeit der Ergebnisse einschränke.

Hausberg aber betont: „Es werden trotzdem noch Millionen der 20 bis 30 Millionen Menschen mit Hypertonie in Deutschland sein, deren Therapie durch die Ergebnisse dieser Studie zumindest teilweise beeinflusst wird – und für diese Menschen lohnt sich der Einsatz.“

 

REFERENZEN:

1. AHA Scientific Sessions (American Heart Association Congress), 7. bis 11. November 2015, Orlando/USA

2. The SPRINT Research Group: NEJM (online) 9. November 2015

3. Perkovic V, et al: NEJM (online) 9. November 2015

4. Chobanian AV: NEJM (online) 9. November 2015

Kommentar

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