Kaum Klärung über Lärm als Krankmacher: NORAH-Lärmstudie wegen methodisch „dicker Böcke“ wertlos?

Gerda Kneifel

Interessenkonflikte

10. November 2015

Prof. Dr. Eberhard Greiser

Viel Lärm um eine Lärmstudie: Nicht so sehr ihre Ergebnisse stehen unter massivem Beschuss, sondern die Methodik, mittels derer sie zustande gekommen sind. Die groß angelegte, über 4 Jahre laufende Studie aus dem Rhein-Main-Gebiet NORAH (Noise-related Annoyance, Cognition and Health) fand unter anderem ein erhöhtes Risiko für Herzinfarkt, Herzinsuffizienz, Schlaganfall und Brustkrebs bei durch Straßen-, Schienen- oder Fluglärm geplagten Studienteilnehmern [1]. Überraschend allerdings: In der Teilstudie zum Blutdruck konnten die Forscher keinen Zusammenhang zwischen Lärm und Bluthochdruck feststellen. Dies steht im Widerspruch zu den Ergebnissen vorangegangener Studien. Doch das ist längst nicht alles, was Experten an der Studie kritisieren.

Prof. Dr. Thomas Münzel

„Hier wurden kapitale Designfehler gemacht, die Studie zum Blutdruck ist komplett unbrauchbar“, urteilt Prof. Dr. Eberhard Greiser, Zentrum für Sozialpolitik, Universität Bremen. Und Prof. Dr. Thomas Münzel, Zentrum für Kardiologie der Universitätsmedizin Mainz, ergänzt: „Die Autoren sind mit ihren Ergebnissen noch vor dem Review-Verfahren und der Publikation der Studie an die Öffentlichkeit getreten. Das ist ein völlig unwissenschaftliches Vorgehen und wie sich zeigt, hat die Studie ja offensichtlich gravierende Mängel.“

Sehr aufwendig betriebene Studie

Die mit großem Aufwand angelegte, 10 Millionen Euro teure Lärmstudie hatte zum Ziel, die gesundheitlichen Auswirkungen von Verkehrslärm, insbesondere Fluglärm, zu untersuchen. Das Besondere dabei: Es wurde differenziert nach den 3 Verkehrsarten Straße, Schiene und Luft. Die Untersuchung wurde zudem in 5 Teilstudien aufgeteilt: Lebensqualität, Krankheitsrisiken, Blutdruck, Schlaf und Kinder. Die Ergebnisse der Kinderstudie waren bereits im vergangenen Jahr veröffentlicht worden und hatten gezeigt, dass Fluglärm am Tag die Leseleistung der Kinder gravierend beeinträchtigt.

Den 5 Arbeitsgruppen wurde ein wissenschaftlicher Beirat zur Qualitätssicherung mit 9 Experten aus unterschiedlichen Fachgebieten zur Seite gestellt. Deren Vorsitzender, Prof. Dr. Wolfgang Hoffmann, Universität Greifswald, bedauerte auf der Pressekonferenz Ende Oktober 2015zwar, dass der Beirat nicht am Studiendesign beteiligt gewesen war, winkte die Ergebnisse aber letztendlich durch – auch wenn er durchaus langwierige Diskussionen mit den Studienautoren einräumte.

 
Die Autoren sind mit ihren Ergebnissen noch vor dem Review-Verfahren und der Publikation der Studie an die Öffentlichkeit getreten. Das ist ein völlig unwissenschaftliches Vorgehen … Prof. Dr. Thomas Münzel
 

Financiers der Studie sind das Land Hessen, der Frankfurter Flughafenbetreiber Fraport und Lufthansa – ein Trio, das die Glaubwürdigkeit der Ergebnisse nicht unbedingt steigert. „Mit Herrn Schreckenberg ist ein Marktforscher zu einem der Studienleiter von NORAH gewählt worden“, wettert denn auch Greiser. „Im Abschlussbericht der Studie hat er dargelegt, dass er sich bezüglich der Berechnung der Antwortraten an die Maßstäbe eines amerikanischen Marktforschungsunternehmens hält. In der Wissenschaft haben wir aber ganz andere Maßstäbe.“ Die extrem niedrigen Antwortraten auf die Befragung sind einer der Hauptkritikpunkte an der Studie.

Schienen- und Straßenlärm schlecht fürs Herz

Durch Straßen- und Schienenlärm erkranken mehr Menschen als durch Fluglärm. Das ist die erste Nachricht der von Prof. Dr. Andreas Seidler, Institut und Poliklinik für Arbeits- und Sozialmedizin, TU Dresden, geleiteten Teilstudie zu den Krankheitsrisiken. Die Analyse erfasste die Erkrankungshäufigkeit bei mehr als 1 Millionen Versicherten von 3 gesetzlichen Krankenkassen. Fluglärm ist demnach vor allem nachts schädlich.

„Das Risiko zum Beispiel, einen Herzinfarkt zu erleiden, wird durch Schienen- und Straßenlärm klar erhöht. Bei Fluglärm finden wir jedoch keinen positiven Zusammenhang zwischen Herzinfarkt und Dauerschallpegel“, so Seidler. Zugleich steigt aber das Risiko eines tödlich verlaufenden Herzinfarkts, und zwar auch bei niedrigem Lärmpegel. Hierzu allerdings gab es nur relativ geringe Fallzahlen, schränkte Seidler ein.

Für den Schlaganfall ergab sich ein vergleichbares Bild. Das Risiko erhöhte sich vor allem bei Schienen- und Straßenlärm. Betrachtet man allerdings die Menschen gesondert, die einem nächtlichen Maximalpegel von über 50 Dezibel ausgesetzt sind, steigt das relative Risiko eines Schlaganfalls signifikant um 7%.

 
Das Risiko zum Beispiel, einen Herzinfarkt zu erleiden, wird durch Schienen- und Straßenlärm klar erhöht. Prof. Dr. Andreas Seidler
 

Die Prävalenz von Herzinsuffizienz dagegen steigt mit kontinuierlichem Anstieg des Lärmpegels für alle 3 Lärmarten gleichermaßen. „Unsere Ergebnisse sprechen grundsätzlich für eine ursächliche Beteiligung der Verkehrslärmexposition an dieser Erkrankung“, resümiert Seidler. Gleiches gelte für Depressionen.

Für Brustkrebs bei Frauen zeigte sich ein 3-fach erhöhtes Risiko ab einem Fluglärmpegel von 55 Dezibel in der Nacht zwischen 23 und 5 Uhr. Aber auch hier handele es sich laut Seidler nur um wenige Fallzahlen, so dass weitere Studien notwendig seien. „Ich bin mir nicht sicher, ob das über die Schiene Lärm zu erklären ist“, meint Greiser gegenüber Medscape Deutschland. „Ich halte Emissionen für plausibler, aber es gibt hierfür noch kein vernünftiges Ausbreitungsmodell.“

Greiser hält die Studie methodisch für ausgezeichnet. Den Ansatz der Studie findet auch Münzel in Ordnung. „Allerdings fehlt in dieser Teilstudie der Blutdruck komplett“, erläutert Münzel seine Bedenken. „Bluthochdruck ist der wichtigste Risikofaktor für Herzerkrankungen. Diese Daten lagen sicherlich vor und wenn etwas gesichert ist, dann dass Fluglärm Bluthochdruck macht. Ich frage mich, warum Seidler ihn einfach ausgeblendet hat.“

Kommentar

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