Neue europäische HIV-Leitlinien: Therapie für alle Infizierten und Präexpositionsprophylaxe für Risikopatienten

Andrea Warpakowski

Interessenkonflikte

30. Oktober 2015

Barcelona – Alle 2 Jahre ist der europäische AIDS-Kongress der European Aids Clinical Society (EACS) Anlass, die europäischen HIV-Therapieleitlinien zu aktualisieren – dieses Jahr wurde die Version 8.0 vorgestellt. Die neuen EACS-Leitlinien stehen als kleines Buch, pdf-Version und als kostenlose App für IOS- und Android-Systeme auf der EACS-Internetseite zur Verfügung; die online-Version enthält mehr Informationen als die Print-Version.

Mit der neuen Aktualisierung stimmen die europäischen Leitlinien nun, was den Therapiestart angeht, mit anderen internationalen Empfehlungen überein – den Leitlinien der Weltgesundheitsorganisation (WHO) sowie denjenigen des US-Department of Health and Human Services (DHHS), der International AIDS Society USA (IAS-USA) und der British HIV Association (BHIVA): Die HIV-Therapie sollte unabhängig von der CD4-Zellzahl möglichst bald nach der Diagnose beginnen.

Die neue Empfehlung zum Therapiebeginn

Es ist seit 2006 zum ersten Mal, dass wieder alle Leitlinien in diesem Punkt übereinstimmen, betonte Prof. Dr. José Gatell, Universität Barcelona, Spanien, auf dem Kongress [1]. Zum damaligen Zeitpunkt war die Therapie nur dringend empfohlen worden (strongly recommended), wenn die CD4-Zellzahl unter 200/mm3 lag, und empfohlen (recommended), wenn die CD4-Zellzahl 200-350/mm3 betrug. Keine Therapieempfehlung gab es damals bei einer CD4-Zellzahl von mehr als 350/mm3.

 
Die EACS empfiehlt nun, eine Therapie bei über 350 CD4-Zellen/mm 3 … auch bei asymptomatischen HIV-Infizierten zu beginnen. Prof. Dr. José Gatell
 

„Die EACS empfiehlt nun, eine Therapie bei über 350 CD4-Zellen/mm3, d.h. unabhängig von der CD4-Zellzahl, auch bei asymptomatischen HIV-Infizierten zu beginnen, hat aber im Gegensatz zu anderen Leitlinien die dringende Therapieempfehlung bei weniger als 350/mm3 mit aufgenommen“, berichtete Gatell. Diese Empfehlung basiert auf den Ergebnissen der START-Studie: Patienten mit frühem Therapiebeginn hatten in dieser Studie im Vergleich zu Patienten mit einem Therapiebeginn bei weniger als 350 CD4-Zellen/mm3 ein deutlich geringeres Risiko für AIDS-assoziierte Infektionen und Krebserkrankungen sowie schwerwiegende nicht-AIDS-assoziierte Ereignisse und Tod.

Mit welchen Medikamenten beginnen?

„Die empfohlenen, bevorzugten Therapieregime für die initiale Therapie haben sich von insgesamt 13 in der vorherigen Version auf sechs in der aktuellen Version verringert, und sie spiegeln die wachsende Rolle der Integrase-Inhibitoren wider“, so Gatell. Alle 3 verfügbaren Integrase-Inhibitoren (INI) – Dolutegravir, mit Cobicistat geboostertes Elvitegravir und Raltegravir – werden als initiale Therapie empfohlen:

  • • Dolutegravir in Kombination mit dem sogenannten „Backbone“ aus 2 nukleosidalen Reverse-Transkriptase-Inhibitoren (NRTI) – Abacavir und 3TC (ABC/3TC) oder Tenofovir/Emtricitabin (TDF/FTC)

  • • sowie mit Cobicistat geboostertes Elvitegravir

  • • und Raltegravir in Kombination mit dem Backbone TDF/FTC.

 
Die empfohlenen, bevorzugten Therapieregime für die initiale Therapie haben sich … auf sechs verringert, und spiegeln die wachsende Rolle der Integrase-Inhibitoren wider. Prof. Dr. José Gatell
 

Zusätzlich empfiehlt die EACS nach wie vor einen nicht-nukleosidalen Reverse-Transkriptase-Inhibitor (NNRTI) – Rilpivirin – und einen mit Ritonavir geboosterten Proteaseinhibitor (PI/r) – Darunavir/r, jeweils in Kombination mit TDF/FTC als initiales Therapieregime.

Alle anderen Therapieoptionen mit den anderen verfügbaren PI/r oder NNRTI werden als Alternativen aufgeführt, falls die empfohlenen Therapieregime nicht einsetzbar oder im jeweiligen Land nicht verfügbar sind.

NEU: PrEP für HIV-negative Risikopersonen

Als neues Kapitel in den aktualisierten EACS-Leitlinien stellte Gatell die Präexpositionsprophylaxe (PrEP) vor, die ebenfalls schon in den WHO-, US- und BHIVA-Leitlinien enthalten ist und auf den positiven Ergebnissen der beiden Studien PROUD und IPERGAY basiert.

 
Es muss klar sein, dass die PrEP eine medikamentöse Intervention ist, die keinen 100-prozentigen Schutz vor einer HIV-Infektion bietet. Prof. Dr. José Gatell
 

Die EACS empfiehlt eine PrEP für HIV-negative homosexuelle Männer und Transgender-Personen, die unregelmäßig ein Kondom benutzen, wenn sie mit häufig wechselnden Partnern oder mit HIV-positiven Personen Sex haben. Eine sexuell übertragbare Infektion (STD, außer HIV) oder die Anwendung einer HIV-Postexpositionsprophylaxe (PEP) sieht die EACS als Anhaltspunkt für ein HIV-Risiko an. Für HIV-negative heterosexuelle Frauen und Männer kann der EACS zufolge eine PrEP erwogen werden, wenn sie ebenfalls unregelmäßig ein Kondom benutzen oder mit einem HIV-positiven Partner, der nicht behandelt wird, Sex haben.

„Aber es muss klar sein, dass die PrEP eine medikamentöse Intervention ist, die keinen 100-prozentigen Schutz vor einer HIV-Infektion bietet, nicht vor anderen STDs schützt und Nebenwirkungen hervorrufen kann“, erinnerte Gatell. Als PrEP-Regime werden die beiden NRTIs Tenofovir/Emtricitabin als eine Tablette täglich empfohlen.

Homosexuelle Männer mit hohem Risiko können TDF/FTC auch „on demand“ verwenden, d.h. die doppelte Dosis 2 bis 24 Stunden vor jedem Sex einnehmen, gefolgt von jeweils einer Einzeldosis 24 und 48 Stunden nach jedem Sex. Bei der On-demand-Therapie sollten pro Woche nicht mehr als 7 Tabletten eingenommen werden.

 
Liegt eine HCV-Koinfektion vor, wird eine HCV-Therapie nun auch ab Fibrosegrad 2 empfohlen. Prof. Dr. Jürgen Rockstroh
 

Was ist bei Komorbiditäten zu beachten?

Prof. Dr. Georg Behrens, Klinik für Immunologie und Rheumatologie, Medizinische Hochschule Hannover, stellte das 60 Seiten umfassende Kapitel zur Prävention und zum Management der Komorbiditäten vor, das auch bei dieser Aktualisierung wieder an Umfang zunahm. Viele der Übersichtstabellen sind nur in der Online-Version verfügbar.

Neu ist der allgemeine Passus, der eine multidisziplinäre Betreuung für die immer älter werdenden HIV-Patienten mit multiplen Komorbiditäten und chronischer Immunaktivierung empfiehlt, um eine gute Lebensqualität zu erhalten und Gebrechlichkeit zu vermeiden.

Als weitere wichtige Neuerungen nannte Behrens beim Screening auf Analkarzinom bei homosexuellen Männern eine digitale rektale Untersuchung möglichst mit Zytologie, ein frühes Screening auf neurokognitive Defizite, wenn die HIV-positive Person selbst oder nahestehende Personen über Defizite berichten, sowie die Verwendung der CKD-EPI (Chronic Kidney Disease Epidemiology Collaboration) Formel zur Berechnung der glomerulären Filtrationsrate (GFR). Diese Formel schätzt die GFR besser als die vereinfachte MDRD (Modification of Diet in Renal Disease) Formel oder die Cockroft Gault Formel.

Prof. Dr. Jürgen Rockstroh

Koinfektion mit Hepatitis B und Hepatitis C

HIV-infizierte Personen, die auch eine Koinfektion mit Hepatitis B haben, sollten nach den Worten von Prof. Dr. Jürgen Rockstroh, Medizinische Klinik und Poliklinik I, Universität Bonn, ebenfalls unabhängig von der CD4-Zellzahl eine HIV-Therapie erhalten. „Liegt eine HCV-Koinfektion vor, wird eine HCV-Therapie nun auch bei einer weniger fortgeschrittenen HCV-Infektion ab Fibrosegrad 2 empfohlen, die vorherige Version empfahl eine HCV-Therapie erst ab Fibrosegrad 3“, berichtete Rockstroh.

Als Therapieoption der Hepatitis C bei HIV/HCV-koinfizierten Patienten fehlt nun als erste Wahl wie auch bei der HCV-Monoinfektion pegyliertes Interferon plus Ribavirin. Stattdessen werden je nach HCV-Genotyp bis zu 6 verschiedene Kombinationen aus direkt antiviral wirkenden Substanzen (DAA) empfohlen. Rockstroh wies auf die Tabelle zu den Medikamenteninteraktionen zwischen HIV-Medikamenten und DAAs hin, die aktualisiert wurde und ein sehr gutes Hilfsmittel bei der Auswahl der HCV-Therapie darstelle.

 

REFERENZEN:

1. 15th European Aids Conference der EACS, 21. bis 24. Oktober 2015, Barcelona/Spanien

Kommentar

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