Das Risiko für den Einzelnen bleibt klein
Das absolute Risiko, an Darmkrebs zu erkranken, ist geringer, als die 17 bzw. 18% Risikoerhöhung suggerieren. Steigt das relative Risiko um 17%, bedeutet das zunächst einmal keinen bedeutsamen Anstieg für den Einzelnen, ist auch auf dem Scienceblog des britischen Instituts Cancer Research UK nachzulesen. Wenn von 1.000 Menschen 61 in Großbritannien im Laufe ihres Lebens Darmkrebs entwickeln, dann würden bei 17% Risikoerhöhung durch sehr hohen Fleischkonsum 66 Menschen erkranken. Von denen mit dem niedrigsten Fleischkonsum wären es 56.
Das absolute Risiko relativieren auch die IARC-Experten selbst: „Für den Einzelnen bleibt das Risiko, Darmkrebs aufgrund seines Verzehrs verarbeiteten roten Fleisches zu entwickeln, klein. Doch das Risiko steigt mit der Menge an konsumiertem Fleisch“, betont Dr. Kurt Straif, Leiter der IARC-Sektion Monographien. „Mit Blick auf die große Zahl an Menschen, die verarbeitetes Fleisch essen, ist der Effekt auf die Krebsrate von Bedeutung für die öffentliche Gesundheit.“
Dem stimmt auch Boeing zu: „Wenn renommierte Experten aufgrund einer so breiten internationalen Datenlage von rund 34.000 Toten sprechen, die weltweit pro Jahr an Darmkrebs aufgrund zu hohen Fleischgenusses sterben, dann ist das eine ernst zu nehmende Zahl. Auch wenn es für den Einzelnen nicht um eine wahnsinnig große Risikoveränderung geht.“ Und epidemiologischen Daten seien auch bei Studien zum Tabakkonsum die erste Grundlage für weitergehende Studien gewesen.
Die Lehre daraus
Die WHO weist in ihrer Bekanntmachung auch darauf hin, dass rotes Fleisch durchaus positive Effekte auf die Gesundheit haben kann, allein wegen seines Gehaltes an Eisen und Vitamin B12. Laut Bischoff ist auch – im Gegensatz zu Tabakkonsum etwa – nicht jedes einzelne Stück verarbeiteten Fleischs schädlich. „Ein Wurstbrötchen für sich genommen schadet, im Gegensatz zur Zigarette, noch nicht. Es ist alles eine Frage der Dosis. Aber hierzu haben wir keinerlei Hinweise von der IARC erhalten.“ Um eine für die Gesundheit grenzwertige Dosis anzugeben, reiche die Datenlage nicht aus, betont Staif selbst. Es stehe lediglich fest, dass mit der Menge an verzehrtem Fleisch das Risiko steige.
Unbestritten allerdings ist, dass gerade die Deutschen zu viel Fleisch zu sich nehmen. Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) empfiehlt 300 bis 600 g Fleisch pro Woche – der durchschnittliche Verbrauch liegt beim Doppelten. „Dabei halte ich es für schwer, zwischen verarbeitetem und nicht verarbeitetem Fleisch zu unterscheiden“, gibt Scholl zu bedenken.
„Ein Burger wird von der IARC als nicht verarbeitet eingestuft, aber er enthält Saucen, Geschmacksverstärker, Konservierungsmittel. Man kann ein Steak mit Pommes essen oder mit Ratatouille – das sind ganz unterschiedliche Ernährungsmuster. Klar ist, dass mediterrane Kost gesund ist, und dann schadet es auch nicht, wenn man ab und zu ein Schweinelendchen dazu isst.“
Die Bilanz, die so mancher Ernährungswissenschaftler angesichts des enormen öffentlichen Interesses an der WHO-Pressemitteilung zieht, ist denn auch eher nüchtern: „Das Ganze ist sicher kein Blödsinn. Aber man muss die Sache vorsichtig angehen und nicht falsche Signale setzen“, meint Bischoff. „Zumal wir es in der Ernährungsmedizin schon oft erlebt haben, dass sich die Ergebnisse von Assoziationsstudien in Interventionsstudien nicht bewahrheitet haben. Dann die Meinung der Öffentlichkeit wieder zu verändern, ist sehr schwer.“
WHO sieht sich zur Klarstellung genötigt Die WHO rudert in einer erneuten Mitteilung vom Donnerstag, den 29.Oktober, wieder etwas zurück. Es seien eine große Zahl von Rückfragen, besorgten Kommentaren und Bitten um Konkretisierung eingegangen, berichtet die Gesundheitsbehörde. Die IARC (International Agency for Research on Cancer), die die Einstufung von verarbeitetem Fleisch als kanzerogen veröffentlicht hat, arbeite funktional unabhängig unter der Schirmherrschaft der WHO. Die Einschätzung der IARC bestätige die WHO-Ernährungsempfehlungen aus dem Jahr 2002, heißt es. Schon dort werde bereits zu einem nur „moderaten Konsum“ von verarbeiteten Fleisch- und Wurstwaren geraten, um das Krebsrisiko niedrig zu halten. In der neuen IARC-Bewertung gehe es nicht darum, diesen Konsum ganz zu vermeiden. Es werde lediglich nochmals verdeutlicht, dass die Reduktion eines solchen Konsums auch das Risiko für Kolorektalkrebs senken könne. Die WHO kündigt an, dass Anfang des kommenden Jahres ein Expertenkomitee der WHO die neuen Erkenntnisse und deren Auswirkungen auf die allgemeinen Ernährungsempfehlungen bewerten wird. Dieses soll dann auch den genauen Stellenwert von verarbeitetem bzw. rotem Muskelfleisch im Kontext einer gesunden Ernährung definieren. |
REFERENZEN:
1. Pressemeldung IARC, 26. Oktober 2015
2. Bouvard V, et al: Lancet Oncology (online) 26. Oktober 2015
Diesen Artikel so zitieren: Verdorbene Fleischeslust: Was Ernährungexperten zur WHO-Einstufung von Fleisch- und Wurstwaren als kanzerogen sagen - Medscape - 28. Okt 2015.
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