Verdorbene Fleischeslust: Was Ernährungexperten zur WHO-Einstufung von Fleisch- und Wurstwaren als kanzerogen sagen

Gerda Kneifel

Interessenkonflikte

28. Oktober 2015

Die Internationale Agentur für Krebsforschung (International Agency for Research on Cancer, IARC) der Weltgesundheitsorganisation WHO hat mit ihrer Meldung für Aufregung gesorgt, dass sie rotes Muskelfleisch als wahrscheinlich und verarbeitetes rotes Muskelfleisch als sicher kanzerogen einstuft [1]. Damit stehen Leberwurst und Hotdogs auf einer Stufe mit Tabak und Asbest – so lautete zumindest die Einordnung von Christian Sievers, Moderator des heute journal am gleichenTag. Diese Einstufung bezieht sich allerdings nur auf die Frage ob, nicht aber wie oft Wurstwaren Krebs erzeugen.

„Es besteht damit nun kein unmittelbarer Handlungszwang, auf das Wurstbrötchen zu verzichten“, beruhigt denn auch Prof. Dr. Heiner Boeing, Leiter der Abteilung Epidemiologie am Deutschen Institut für Ernährungsforschung (DIFE). „Aber dass sich das Risiko für Darmkrebs bei höherem Verbrauch von verarbeitetem rotem Fleisch verändert, kann man mit gewisser Sicherheit sagen.“

Dr. Johannes Scholl

Das sieht Dr. Johannes Scholl, Ernährungsmediziner in Rüdesheim und Vorsitzender der Deutschen Akademie für Präventivmedizin (DAPM) anders: „Zu behaupten, das Risiko für Darmkrebs steige um 18 Prozent bei jeden 50 g verarbeitetem Fleisch, das man täglich mehr zu sich nimmt, halte ich bei dieser schwachen Datenlage für eine viel zu gewagte Aussage.“

800 Studien über 20 Jahre

Als Grundlage ihrer Einschätzung dienten den 22 internationalen IARC-Experten Daten aus 800 weltweiten epidemiologischen Studien der vergangenen 20 Jahre, die Assoziationen zwischen dem Verzehr roten Fleisches und dem Auftreten von mehr als 15 Krebsarten untersuchten – so die Pressemeldung. Am eindeutigsten war demzufolge der Zusammenhang zwischen rotem Fleisch und Darmkrebs.

Prof. Dr. Stephan Bischoff

„Doch wenn man genauer hinschaut“, moniert Prof. Dr. Stephan Bischoff, Direktor des Instituts für Ernährungsmedizin und Prävention der Universität Hohenheim, Stuttgart, „dann sieht man, dass die Studienzahl bezogen auf eine Krebsart sehr viel niedriger ist. Zu dem Zusammenhang von Darmkrebs und rotem Fleisch gab es gerade einmal 14 Studien. Und davon wiesen gerade einmal die Hälfte einen Zusammenhang nach. Die andere Hälfte ging von keinem Zusammenhang aus.“

Da die Metaanalyse bislang noch nicht veröffentlicht ist, ließe sich weder Näheres über die Analyse selbst noch über die Qualität der einbezogenen Studien sagen. „Ich halte es zudem für eine bedenkliche Vorgehensweise, mit einer Pressemeldung an die Öffentlichkeit zu gehen, wenn die eigentliche Studie noch nicht vorliegt und die Zusammenhänge nicht nachvollziehbar sind“, kritisiert Bischoff im Gespräch mit Medscape Deutschland.

Zwar hat das IARC selbst betont, dass sie keine Empfehlung ausspricht, sondern eher eine Beurteilung wissenschaftlicher Ergebnisse vorgenommen hat. Andererseits jedoch werde die Öffentlichkeit mit so plakativen Interviews wie dem Fernsehauftritt der Präventivmedizinerin Prof. Dr. Sabine Rohrmann von der Universität Zürich im heute journal konfrontiert.

„Frau Rohrmann sprach in dem Interview von einer homogenen Datenlage, aber das lässt sich bei genauerem Hinsehen überhaupt nicht bestätigen“, sagt Bischoff. „Selbst für verarbeitetes Fleisch fand sich nur in zwei Drittel der Studien ein Zusammenhang mit Darmkrebs. Damit wird ein falsches Signal gesetzt, denn es wird suggeriert, dass man ab sofort kein Fleisch mehr essen sollte. Schließlich gibt es auch Menschen mit Proteinmangel, alte Menschen, Schwangere oder kleine Kinder, für die eine fleischlose Ernährung durchaus ein Risiko sein kann.“

 
Es besteht damit nun kein unmittelbarer Handlungszwang, auf das Wurstbrötchen zu verzichten. Prof. Dr. Heiner Boeing
 

Zahl der Darmkrebs-Studien viel geringer

Die Wissenschaftler der IARC fassen die Ergebnisse der Analyse in Lancet Oncology kurz zusammen [2]. Demnach erhöhen jede 50 g mehr, die man täglich an verarbeitetem Fleisch zu sich nimmt, das Darmkrebs-Risiko um 18%, und der tägliche Verzehr von 100 g unverarbeitetem rotem Fleisch geht mit einer Risikoerhöhung von 17% einher. Das IARC beruft sich bei diesen Zahlen auf eine Metaanalyse von 10 Kohortenstudien zu Darmkrebs, die einen statistisch signifikanten Zusammenhang zwischen Dosis und Wirkung erkennen ließen.

Abgesehen von der eher kleinen Zahl an zugrunde liegenden Studien, „halte ich es auch für methodisch angreifbar“, kommentiert Scholl gegenüber Medscape Deutschland. „Epidemiologische Studien nutzen Fragebögen, in denen Teilnehmer ihre freiwilligen Essgewohnheiten angeben. Die Daten werden dann auf viele Jahre hochgerechnet, in der Annahme, dass die Gewohnheiten dieselben bleiben. Zum einen hat man festgestellt, dass Ernährungsfragebögen, sogenannte Food Frequency Questionnaires, mit 0,6 bis 0,7 einen sehr niedrigen Korrelationskoeffizienten mit den tatsächlich eingenommenen Lebensmitteln haben. Denn die Angaben, die bei konkreten Ernährungsprotokollen mit Wiegen und Abmessen gemacht werden, weichen häufig stark von den Fragebogenergebnissen ab.“

Zum anderen spiele auch die Kohorte der Studien eine entscheidende Rolle. „Hier werden sozusagen LKW-Fahrer, die im Drive-In Stopp machen, um ihren Burger zu essen, verglichen mit der nur sporadisch Fleisch essenden Lehrerin“, so Scholl. „Es gibt dadurch viele systematische Fehler durch Faktoren wie Arbeitsplatz, Stress, Verzehr von Gemüse, sportliche Aktivitäten, Tabak- und Alkoholkonsum, die man statistisch nur mit gewissen Unsicherheiten herausrechnen kann. Deshalb kann man mit epidemiologischen Studien eine Hypothese aufstellen, aber nicht den Beweis der Kausalität führen.“

Nicht zuletzt gibt Bischoff zu bedenken: „Wenn man seinen Wurstkonsum von 100 g auf 150 g Fleischkonsum hochfährt, bedeutet das laut der Metaanalyse einen Anstieg des Risikos um 18 Prozent. Dies bedeutet nicht eine Steigerung von derzeit 6% Risiko auf 24%, sondern 18% bezogen auf 6%, d.h. eine Steigerung um 1% auf ca. 7%. Das wurde leider nicht klar kommuniziert im Fernsehen.“

Kommentar

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