Leipzig – Verstopfungen bei Kindern und Jugendlichen sollten frühzeitig behandelt werden, denn es besteht eine nicht unerhebliche Gefahr der Chronifizierung – bis hinein ins Erwachsenenalter. „Pädiater raten leider noch zu häufig, einfach abzuwarten bzw. mehr zu trinken und sich mehr zu bewegen. Einfaches Abwarten, aber auch rektal-digitale Untersuchungen, ein Klysma oder reine Diätmodifikation können aber schnell in den Teufelskreis einer chronischen funktionellen Verstopfung führen“, mahnte Dr. Martin Claßen, Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin am Klinikum Links der Weser, Bremen, auf dem Viszeralmedizinkongress in Leipzig [1].
Die Diagnose relativ unproblematisch
Chronische Obstipation im Kindes- und Jugendalter ist ein Syndrom, das sich von der Obstipation in der Geriatrie klar unterscheidet, denn die absolute Stuhlfrequenz ist bei den jüngsten Patienten nicht das entscheidende Kriterium für die Diagnose, da „abhängig von den Altersstufen ganz unterschiedliche Entleerungsfrequenzen normal sind“, berichtete der Bremer Kinderarzt. Das wichtigste Begleitsymptom ist – ebenfalls im Unterschied zur Erwachsenenmedizin – Stuhlinkontinenz.
Nach den aktuellen Leitlinien der europäischen Kindergastroenterologen müssen mindestens 2 der folgenden Kriterien vorliegen, um die Diagnose Obstipation stellen zu können:
• Defäkationsfrequenz niedriger als 3x pro Woche
• 2 oder mehr Stuhlinkontinenzepisoden pro Woche
• periodisches Absetzen sehr großer Stuhlmengen einmal alle 7 bis 30 Tage
• tastbare Stuhlmassen im Abdomen oder im Rektum
Bezüglich invasiver Maßnahmen, sowohl in Diagnostik als auch in der Therapie, verhält man sich am Bremer Klinikum sehr zurückhaltend. Für die Basisdiagnostik genüge eine Checkliste und ein Fragebogen für die Anamnese, die allerdings sehr sorgfältig durchgeführt werden müsse. Werden noch Komorbiditäten erfasst und eine klinische bzw. neurologische Untersuchung vorgenommen, ist eine Diagnosestellung mit einem Evidenzgrad von III möglich.
Die Abklärung des Syndroms kann somit jeder Kinder- und Jugendarzt in seiner Praxis problemlos vornehmen. „Es sollten dabei allerdings so wenig invasive Maßnahmen vorgenommen werden, wie irgend möglich, also keine rektalen Temperaturkontrollen oder auch Klysmen. Damit werden Kinder, die aufgrund ebensolcher Eingriffe den Stuhl zurückhalten, nur weiter traumatisiert“, so Claßen.
Wichtig bei Kindern: Ausschluss anderer Erkrankungen
„In der Pädiatrie haben wir außerdem einen ganz großen Strauß an möglichen angeborenen Erkrankungen und Fehlbildungen, die insbesondere bei Beginn der Symptome im ersten Lebensjahr ausgeschlossen werden müssen“, ergänzte der Kinderarzt. Dazu zählen Erkrankungen des Anorektums wie Analstenose oder -dystopie, Morbus Hirschsprung oder Analatresie – und zwar auch nach einer operativen Korrektur. „Häufig haben die operierten Kinder selbst nach einer korrekt durchgeführten OP noch ein Obstipationsproblem, weil sie durch die Aufdehnung des Darms und andere medizinische Maßnahmen so traumatisiert sind, dass sie reaktiv eine Obstipation entwickeln – ein sehr, sehr gravierendes Problem“, so Claßen.
Auch die große Gruppe neurologischer oder neuromuskulärer Störungen bringen ein großes Risiko einer Obstipation mit sich. Dazu zählen vor allem Zerebralparese, Muskelhypotonie und -atrophien beziehungsweise -dystrophien, aber auch Erkrankungen der Wirbelsäule und des Rückenmarks. Absolute Ausnahmen sind laut Claßen Obstipationen durch Medikamente und Toxine, etwa Antidepressiva, Chemotherapeutika oder auch Bleivergiftungen und Vitamin-D-Intoxikationen.
„Wichtiger ist zu wissen, dass auch Zöliakie oder Nahrungsprotein-, und dabei vor allem Kuhmilch-Allergien Motilitätsstörungen hervorrufen können“, stellte Claßen klar. „Bei früh begonnener Obstipation gehört daher bei uns immer auch ein Ausschluss der Kuhmilchallergie durch einen Diätversuch dazu, ebenso natürlich wie der Ausschluss der Zöliakie.“ Andere Ursachen wie Hypothyreose, Hypokaliämie oder auch Diabetes werden bei Bedarf mit Laboruntersuchungen abgeklärt.
Inkontinenz immer wieder als Durchfall verkannt
Mit 95% leidet jedoch der weitaus größte Teil der Patienten unter funktioneller chronischer Obstipation, die sich meist zwischen dem 1. und 5. Lebensjahr entwickelt, wenn die Sensibilität für diesen Bereich ausgebildet wird. Auslöser sind oft banale Dinge wie eine Streptokokken-Infektion, Fissuren oder auch die Erfahrung regelmäßiger Manipulationen am Anus wie Temperaturkontrolle, Zäpfchen oder Klysma.
Solche Trigger können einen Teufelskreis in Gang setzen, im Zuge dessen sich die rektale Compliance verändert. Die Rektumwand dehnt sich, so dass für die Stuhlentleerung höherer Druck notwendig ist. Oft führen das und die Trigger zum willkürlichen Zurückhalten des Stuhls, so dass sich große Stuhlmengen im Darm ansammeln, der Stuhl weiter verhärtet, erst recht zurückgehalten wird und die Dehnung des Rektums weiter zunimmt. „Durch die zunehmende Dilatation des Rektums wird die Wahrnehmung der Enddarmfüllung gestört und der Entleerungsreflex ausgeschaltet“, erklärte Claßen.
Das mit 75 bis 90% aller Fälle wichtigste Begleitsymptom einer funktionellen chronischen Obstipation bei Kindern und Jugendlichen ist die Stuhlinkontinenz. „Es ist eine Art Überlauf-Enkopresis, also ein Einkoten bei Kindern, die älter als vier Jahre sind. Dabei sehen wir immer wieder Patienten, die mit Durchfall vorgestellt werden und die doch letztendlich an einer hochgradigen Obstipation leiden, im Zuge derer es zu diesem sogenannten Überlauf kommt“, berichtete Claßen.
Häufig ist mit 50 bis 80% aller Fälle zudem eine schmerzhafte Defäkation. „Die anderen Begleitsymptome wie Bauchschmerzen, vorgewölbter Abdomen, Appetit- oder Gedeihstörung sind alle nicht obligat“, so Claßen. „Es fallen jedoch relativ hohe Raten an psychiatrischen Störungen wie ADHS oder oppositionellem Verhalten auf. All das muss natürlich ebenfalls behandelt werden.“ Das gilt im Übrigen auch für Begleiterkrankungen wie Harnwegsinfektionen, Harninkontinenz oder auch Entwicklungsstörungen, unter denen rund 30% der jungen Patienten leiden.
Beratung und Schulung als wesentliche Bausteine der Therapie
Zur Obstipation bei Kindern und Jugendlichen „haben wir leider sehr viel weniger Evidenz bezüglich Diagnose und Therapie als bei Erwachsenen“, umriss Claßen das Problem. Es bestehe weder Evidenz für radiologische beziehungsweise rektal-digitale Untersuchungen zur Diagnosestellung, noch gebe es Evidenz für die Anhebung des Fasergehaltes der Nahrung beziehungsweise vermehrte Aufnahme von Flüssigkeit zur Therapie. „Das heißt wir arbeiten meist mehr auf Basis von Erfahrungen als basierend auf Studien“, resümierte der Pädiater.
Ebenfalls im Unterschied zur Erwachsenenmedizin wird bei der Therapie sehr viel Wert auf Beratung, Schulung und Begleitung gelegt. Gegebenenfalls ist allerdings auch eine komplette initiale Darmentleerung zu empfehlen. Ernährungsmodifikationen und Verhaltens-, vor allem Toilettentraining sind eine weitere Option, „wobei auch das Biofeedback in diesem Fall nicht evidenzbasiert ist“, schränkte Claßen ein.
„Eine stuhlaufweichende orale Therapie mit den Standardmedikamenten Macrogol oder Lactulose machen wir eigentlich nur im ersten Lebensjahr.“ Bezüglich einer medikamentösen Behandlung stellte der Bremer eine Studie aus dem vergangenen Jahr vor, die zeigt, dass das Prokinetikum Prucaloprid, das seit 2010 für Frauen mit Obstipation zugelassen ist, bei Kindern keinen Vorteil gegenüber Placebo hat – weder bezüglich Stuhlfrequenz noch bezüglich Inkontinenz. „Das entspricht auch meinen Erfahrungen“, ergänzte Claßen, „die meisten Patienten haben eher das Problem des reaktiven Anspannens des Sphinkters und des Nicht-Loslassen-Könnens.“
REFERENZEN:
Diesen Artikel so zitieren: Kein Abwarten und (Tee) trinken: Frühe und adäquate Therapie der Obstipation bei Kindern beugt Chronifizierung vor - Medscape - 23. Okt 2015.
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