Wie hoch ist das Risiko für Patienten mit Herzerkrankungen, durch sexuelle Aktivität einen Herzinfarkt bzw. Reinfarkt zu erleiden? Diese Frage hat ein Forscherteam um Prof. Dr. Dietrich Rothenbacher, Universität Ulm, Institut für Epidemiologie und Medizinische Biometrie, untersucht. Die Studie ist im Journal of the American College of Cardiology publiziert [1]. Das Ergebnis: Nach diesen Daten scheint Sex nur mit einem geringen Infarktrisiko verbunden zu sein.
Besonders nach einem überstandenen Infarkt haben viele Paare Angst, durch sexuelle Aktivität ein erneutes akutes Ereignis auszulösen. Auch Prof. Dr. Karl-Heinz Ladwig, Helmholtz Zentrum München, Deutsches Forschungszentrum für Gesundheit und Umwelt (GmbH), beruhigt aber in einem Interview mit Medscape Deutschland: „Bei einem unkomplizierten Infarkt ohne Symptome während eines Belastungstests oder bei moderater Aktivität liegen die Empfehlungen für die Wiederaufnahme des gewohnten Sexuallebens bei einer Woche oder später“, erläutert er.
Myokardinfarkt-Risiko durch Sexualität gering
Bislang gebe es nur wenige Daten zu den mit sexueller Aktivität assoziierten Infarkt-Risiken, schreiben Rothenbacher und seine Kollegen. Sie haben über 10 Jahre 536 Infarktpatienten im Alter zwischen 30 und 70 Jahren prospektiv beobachtet.
Zunächst wurden die Teilnehmer mittels eines standardisierten Fragebogens nach der Häufigkeit und dem Zeitpunkt ihrer sexuellen Aktivitäten in den 12 Monaten vor dem Infarkt befragt. Die Befragungsergebnisse zeigten, dass über die Hälfte der Teilnehmer vor dem Ereignis ein- bis mehrmals wöchentlich Geschlechtsverkehr hatte. Etwa 26% hatten weniger als einmal die Woche Geschlechtsverkehr, 4,7% weniger als einmal im Monat und 15% gaben an, sexuell nicht aktiv gewesen zu sein.
Lediglich 3 Patienten waren im kritischen Zeitraum von 2 Stunden vor dem Infarkt sexuell aktiv gewesen; das entspricht gerade mal 0,7%. Schon dieses Ergebnis, so die Epidemiologen, weise auf eine nur geringe Gefährdung hin, einen Infarkt als Folge von Sex zu erleiden.
Sexuell aktivere Patienten waren jüngeren Alters, hatten weniger Diabetes oder andere schwere Herzerkrankungen und waren körperlich trainierter im Vergleich zu den anderen. „Regelmäßige körperliche Aktivität hat einen protektiven Effekt bei Herzpatienten, weil durch die Bewegung die Herzfrequenz nicht so stark ansteigt bei Belastung“, erläutert Ladwig.
Während des 10-jährigen Follow-up trat bei 100 Patienten ein zweites kardiovaskuläres Ereignis auf – dies unabhängig davon, wie häufig sie Sex hatten. Auf der Grundlage dieser Daten sei es sehr unwahrscheinlich, dass sexuelle Aktivität ein relevanter Auslöser für einen Myokardinfarkt sei, schreiben die Autoren.
Die Kreislaufbelastung während des Koitus entspricht in etwa 3 bis 4 metabolischen Äquivalenten (MET) und ist vergleichbar einer moderaten körperlichen Tätigkeit wie Treppensteigen über 2 Stockwerke oder schnellem Gehen. Patienten mit kardiovaskulären Erkrankungen, die im Belastungstest 3 bis 5 MET erreichen, ohne Beschwerden zu haben, haben demnach auch bei sexuellen Handlungen ein relativ geringeres Herzinfarkt-Risiko.
Herzpatienten sollten gewohntes Sexualleben bald wieder aufnehmen
Ein Manko der Studie ist, dass den Forschern keine Angaben über die sexuelle Aktivität nach dem Infarkt vorlagen. Jedoch verweisen sie auf Studienergebnisse, nach denen die Häufigkeit sexueller Aktivitäten im ersten Jahr nach dem Infarkt nur leicht abnimmt: um 6% bei Männern und um 4% bei Frauen. Vor diesem Hintergrund und aufgrund des eher geringen Risikos für einen erneuten Infarkt, sollten sich Herzpatienten keine Sorgen machen und ihr gewohntes Sexualleben bald wieder aufnehmen, raten die Autoren.
Ein ausgefülltes Sexualleben ist eine wichtige Komponente der Lebensqualität für die meisten Menschen. „Sexuelle Probleme bei KHK-Patienten sind häufiger als diese angeben. Der aus einem reduzierten Sexualleben resultierende Leidensdruck hat weitreichende psychosoziale Folgen für die Paarbeziehung. Eine Beziehung ist ja wesentlich mehr als der Koitus an sich. So kann diese Zurückhaltung zu erheblichen Beziehungsstörungen führen, so auch beispielsweise zu einem Verlust an Intimität“, betont Ladwig.
Sorgfältige Sexualberatung ist Pflicht
Er moniert jedoch, dass viele Kollegen die Wiederaufnahme der Sexualkontakte nach einem Infarkt nicht ansprechen. Laut den Daten einer Studie würden nur ein Drittel der Frauen und 47% der Männer darüber aufgeklärt. „Über Sexualität zu sprechen ist nicht leicht. Eine entsprechende Sexualberatung bei Herzpatienten ist kein fester Bestandteil einer Arzt-Patienten-Beziehung“, räumt Ladwig ein.
„Erfreulicherweise ist das interdisziplinäre Curriculum, das wir für Ärzte und Psychologen anbieten, immer sehr gut besucht. Hier lernen die Kursteilnehmer unter anderem wie man eine Sexualanamnese macht. Sexualität ist ein Tabuthema bei Patienten und auch Kardiologen tun sich schwer damit. Die Patienten haben viele Fragen, trauen sich aber nicht, diese ihrem Arzt zu stellen. Diese Aufklärung sollte aber fest in die ärztliche Beratung von Herzpatienten integriert sein“, betont er.
Rothenbacher und sein Team plädieren dafür, dass Ärzte Patienten mit KHK außerdem mehr über sexuelle Funktionsstörungen als mögliche Nebenwirkungen von Herzmedikamenten, etwa Betablocker oder Diuretika, aufklären und häufiger auf die Gefahr einer kombinierten Einnahme von Nitraten und PDE-5-Hemmern aufklären.
Ladwig meint aber: „Bei Infarktpatienten steht weniger die Medikation, sondern vor allem das psychische Problem im Vordergrund, welches zu sexuellen Funktionsstörungen führen kann. Die Betroffenen haben ihre körperlichen Grenzen erlebt, empfinden eine Bedrohung durch den eigenen Körper, haben Angst und sind unsicher. Betablocker können zwar Erektionsstörungen hervorrufen, allerdings ist die Wahrscheinlichkeit sehr gering. Eine absolute Kontraindikation besteht allerdings bei der Kombination von PDE-5-Hemmern und Nitraten.“
REFERENZEN:
1. Rothenbacher D, et al: JACC 2105;66 (13):1516-1517
Diesen Artikel so zitieren: Sex nach Myokardinfarkt: Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie Ihren Arzt … - Medscape - 19. Okt 2015.
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