Vorsicht beim relativen Risiko! Auch Ärzte verstehen die Statistiken hinter Screening-Programmen oft nicht

Michael Simm

Interessenkonflikte

16. Oktober 2015

Prof. Dr. Gerd Gigerenzer

Basel – In der Bevölkerung, aber auch unter Ärzten, gibt es große Defizite beim Verständnis von Statistiken, beklagt der Direktor des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung und des Harding-Zentrums für Risikokompetenz in Berlin, Prof. Dr. Gerd Gigerenzer. Zum Auftakt der Jahrestagung der Deutschen, Österreichischen und Schweizerischen Fachgesellschaften für Hämatologie und Medizinische Onkologie (DGHO) in Basel verwies der Psychologe auf eigene Studien, wonach auch 70 bis 80% der Ärzte Gesundheitsstatistiken nicht richtig verstehen.

Zu den Folgen mangelnder Statistikkenntnisse zählen diagnostische Prozeduren – etwa im Rahmen von Screening-Programmen – ohne klare Beweise für deren Nutzen. Außerdem könnten Ärzte, denen das nötige Wissen fehlt, leichter manipuliert werden, so Gigerenzer.

Der „Trick“ mit dem relativen Risiko

Die negativen Konsequenzen dieser Defizite verdeutlichte er anhand der in Großbritannien schon mehrfach durchlebten Diskussion um das Thromboserisiko von Kontrazeptiva der dritten Generation: Kommuniziert wurde dies als eine „Erhöhung des Risikos um 100 Prozent“. Dabei handelte es sich allerdings um das relative Risiko. Nicht genannt wurde das absolute Risiko, welches lediglich von 1:7.000 auf 2:7.000 angestiegen war. Die Folge war eine regelrechte Panik unter britischen Frauen in gebärfähigem Alter, unter denen sehr viele die Pille einfach absetzten. „Im Folgejahr gab es in Großbritannien 13.000 zusätzliche Abtreibungen“, verdeutlichte Gigerenzer die Folgen.

 
Statistiken zu Nutzen und Schaden der Screeningprogramme fehlen immer noch. Prof. Dr. Gerd Gigerenzer
 

Der „Trick“ mit dem relativen Risiko sei bis vor kurzem auch benutzt worden, um Frauen vom Nutzen der Mammographie zu überzeugen und Männer von Vorsorgeuntersuchungen auf Prostatakrebs, erinnerte Gigerenzer. Falsche Informationen hätten dazu beigetragen, dass die meisten Europäer den Nutzen der Krebsfrüherkennung um den Faktor 10, 100 oder mehr überschätzen, sagte der Forscher und verwies dazu auf eine eigene Untersuchung aus dem Jahr 2009. Damals hatten Personen aus Russland am besten abgeschnitten, unter denen der Nutzen eines PSA-Screenings durchschnittlich „nur“ von 77% überschätzt wurde, der Nutzen der Mammographie von 82%.

In Gesellschaften, die als besonders gut informiert gelten, wurde der Nutzen der Screeningprogramme dagegen am stärksten überschätzt. 99% der Briten, 96% der Franzosen und 94% der Deutschen überschätzten den Wert des PSA-Screenings, bei der Mammographie lagen Deutsche, Niederländer und Franzosen mit jeweils 98% am häufigsten daneben.

„Risikokompetenz“ erwerben

„Inzwischen aber tut sich was, und die Fachgesellschaften haben begonnen, statt des relativen Risikos das absolute Risiko zu kommunizieren“, so Gigerenzer. Zusammen mit der Deutschen Krebshilfe habe er deren Broschüren mit umgeschrieben, sodass diese jetzt allesamt evidenzbasiert seien. „Statistiken zu Nutzen und Schaden der Screeningprogramme fehlen aber immer noch“, kritisierte er.

Um mehr „Risikokompetenz“ zu erlangen, präsentierte der Forscher eine ganze Reihe von Vorschlägen. Schon in der Schule sollten Kinder den Umgang mit Risiken beigebracht bekommen, und die richtige Interpretation von Gesundheitsstatistiken müsse fester Teil der ärztlichen Ausbildung werden.

 
Wir brauchen eine Gesellschaft, die den Mut hat, diese Entscheidungen selbst mitzutragen und die nicht die ganze Last dem Arzt aufbürdet. Prof. Dr. Gerd Gigerenzer
 

In Basel stellte Gigerenzer auch das Konzept der an seinem Institut entwickelten „Faktenboxen“ vor. Sie sollen medizinische Informationen in kompakter Form visualisieren helfen und zudem in einfacher, verständlicher Sprache darstellen. „Faktenboxen, die den Nutzen und den Schaden eines Medikaments, einer Impfung und anderer Behandlungen darstellen, sollten in jeder Arztpraxis ausliegen“, wünschte sich Gigerenzer.

In Zusammenarbeit mit der AOK hat Gigerenzer bereits mehrere solcher Faktenboxen erstellt. Sie klären beispielsweise Fragen wie „Soll ich mein Kind gegen Masern, Röteln und Mumps impfen lassen?“ oder „Kann Vitamin D vor Krebs schützen?“.

Zwar hätten Ärzte die Pflicht, ihre Patienten angesichts unübersichtlicher statistischer Daten zu beraten, meint Gigerenzer. Diese dürfe aber nicht dazu führen, dass die gesamte Verantwortung für die zu treffenden Entscheidungen bei den Medizinern abgeladen werde. Bei Mammographien etwa müsse man wegkommen von dem Paternalismus, den Frauen zu sagen, was sie tun sollen. Gleichzeitig müssten aber auch die Frauen wegkommen von der Vorstellung, dass man ihnen alles sagen muss. „Wir brauchen eine Gesellschaft, die den Mut hat, diese Entscheidungen selbst mitzutragen und die nicht die ganze Last dem Arzt aufbürdet“, so Gigerenzer.

 

REFERENZEN:

1. Jahrestagung der Deutschen, Östereichischen und Schweizerischen Fachgesellschaften für Hämatologie und Medizinische Onkologie (DGHO), 9. bis 13. Oktober 2015, Basel

Kommentar

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