Nach MR CLEAN und Co: Thrombektomie beim Schlaganfall soll flächendeckend verfügbar werden

Michael Simm

Interessenkonflikte

8. Oktober 2015

Düsseldorf – Durch Thrombektomie lassen sich bleibende Behinderungen nach Schlaganfall bei ausgewählten Patienten verringern oder sogar ganz verhindern. Dies betonten Experten auf dem 88. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Neurologie [1]. Möglichst schnell sollen jetzt auch die logistischen Voraussetzungen geschaffen werden, damit die neue Methodik in Deutschland flächendeckend auf höchstem Niveau eingesetzt werden kann.

Es sei erstaunlich, wie schnell sich die Situation gewandelt habe, berichtete Prof. Dr. Michael Knauth vom Institut für Diagnostische und Interventionelle Neuroradiologie der Universitätsmedizin Göttingen auf dem wissenschaftlichen Symposium Ergebnisse und Konsequenzen der mechanischen Thrombektomie.

Nach erfolglosen Studien brachte MR CLEAN den Durchbruch

Noch im Jahr 2013 waren gleich 3 Studien erfolglos geblieben, bei denen man versucht hatte, die Gerinnsel zusätzlich zur Lyse auch mit sogenannten Stent-Retrievern zu entfernen, erinnerte Knauth. Die Geräte ermöglichen es, mit einem Führungskatheter bis zum Thrombus zu gelangen, diesen zu durchstoßen und mit dem Drahtgeflecht eines expandierten Stents einzufangen. Anschließend wird der Stent mitsamt dem Gerinnsel durch den Führungskatheter zurückgezogen.

Dass die ersten Studien trotz des eleganten Ansatzes negativ ausgingen, könnte sowohl mit mangelnder Erfahrung der Chirurgen zu tun gehabt haben, als auch mit der Auswahl der Patienten, der Lokalisation des Insults oder vielen anderen Faktoren, spekulierte Knauth. Den größten Anteil an der Wende hätten aber wahrscheinlich Fortschritte in der Konstruktion der Thrombektomie-Apparaturen gespielt, mutmaßte der Neuroradiologe.

 
Mit MR CLEAN ging die Sonne wieder auf, nachdem wir vorher durch die Hölle gegangen waren. Prof. Dr. Michael Knauth
 

„Mit MR CLEAN ging die Sonne wieder auf, nachdem wir vorher durch die Hölle gegangen waren“, wurde Knauth fast schon poetisch. „Dicke positiv“ sei die Zwischenauswertung der gleichnamigen Studie gewesen, die 2014 auf dem World Stroke Congress in Istanbul vorgestellt wurde und für Furore gesorgt hatte. Nicht nur MR CLEAN wurde danach vorzeitig beendet, sondern auch 6 weitere Studien: ESCAPE, EXTEND 1A, SWIFT PRIME, REVASCAT, THERAPY und THRACE.

Die beiden letztgenannten sind noch nicht in Fachzeitschriften veröffentlicht; alle anderen zeigten laut Publikation aber eine eindeutige Überlegenheit der mechanischen Thrombektomie. Dies galt sowohl bei vorher lysierten Patienten, als auch bei solchen ohne Vorbehandlung, sogar bei sehr alten Patienten und in einem Zeitfenster bis zu 12 Stunden nach Symptombeginn.

Sehr niedrige „number needed to treat“

Knauths Überblick umfasste etwa 1.800 Patienten. Die meisten waren binnen 6 Stunden thrombektomiert worden und hatte zuvor bereits Alteplase erhalten. Der Nutzen der neuen Methode manifestierte sich dabei stets in einem deutlich erhöhten Anteil von Patienten ohne bleibende Behinderung oder mit einer weniger starken Behinderung, dokumentiert durch einen modifizierten Rankin-Score von 2 oder besser.

Zwischen 3 und 7 Patienten müssten etwa behandelt werden, um bei einer zusätzlichen Person eine funktionale Unabhängigkeit zu erreichen, berichtete kürzlich der Lancet . „Dies ist eine sehr, sehr gute Zahl“, so Knauth. Wenn auch mit Ausnahme von ESCAPE die Mortalität in keiner der Studien verringert war, so hätten die neuen Untersuchungen doch zum Durchbruch der mechanischen Thrombektomie geführt.

 
Jemand, der die Methode im Einsatz gesehen hat, wird keinen Zweifel daran haben, dass damit Ergebnisse möglich sind, die wir zuvor nie gesehen haben. Prof. Dr. Jens Fiehler
 

Die Umsetzung dieser Ergebnisse in die klinische Realität müsse nun mit großer Sorgfalt und Ordnung erfolgen, so das Plädoyer von PD Dr. Martin Köhrmann, stellvertretender Direktor der Klinik für Neurologie am Universitätsklinikum Erlangen. Er wies darauf hin, dass die Studien überwiegend die Situation in großen Zentren widerspiegeln. Zum Umgang mit Patienten, die per „drip-and-ship“ nach einem Schlaganfall in solch ein Zentrum kommen und bei denen somit die Zeit bis zur endovaskulären Therapie überbrückt wird (bridging), liegen dagegen noch keine Studien vor. „Umso wichtiger ist die frühe Lyse“, betonte Köhrmann.

Zur Zahl der Patienten äußerte sich Prof. Dr. Jens Fiehler, Direktor der Klinik und Poliklinik für Neuroradiologische Diagnostik, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Er hält die mechanische Thrombektomie für ein Thema, das in der gesamten vaskulären Neuromedizin derzeit alles überstrahlt. „Jemand, der die Methode im Einsatz gesehen hat, wird keinen Zweifel daran haben, dass damit Ergebnisse möglich sind, die wir zuvor nie gesehen haben“, so Fiehler.

Nachdem die Methode 2008 erstmals bei einem Patienten angewandt wurde, dokumentierte die Datenbank der Deutschen Gesellschaft für Neuroradiologie und der Deutschen Gesellschaft für Interventionelle Radiologie für das Jahr 2013 schon mehr als 4.000 Thrombektomien. Es sei aber von erheblich mehr Eingriffen dieser Art alleine in Deutschland auszugehen.

Hohe Standards bei flächendeckender Versorgung gefordert

Während Hacke und Prof. Dr. Hans-Christoph Diener, Direktor der Neurologischen Universitätsklinik Essen, glauben, dass eine Thrombektomie für 10 bis 15% aller jährlich rund 250.000 Schlaganfallpatienten in Frage käme, schätzt Fiehler deren Anteil auf lediglich 5 bis 10%. Voraussetzungen dafür wären unter anderem der Verschluss einer größeren Hirnarterie in der vorderen Zirkulation, der Ausschluss eines größeren Infarkts und der Beginn des Eingriffs binnen 6 Stunden nach Einsetzen der Symptome.

 
Wir sind gefordert, dass Patienten unabhängig von der Entfernung zu einem Spezialisten behandelt werden können. Prof. Dr. Peter Ringleb
 

Aktuell kursiert in Deutschland ein Leitlinienvorschlag, der praktisch identisch ist mit den Leitlinien der US-amerikanischen, kanadischen und EU-weiten neurologischen Fachgesellschaften, so Prof. Dr. Peter Ringleb, Leiter der Sektion Vaskuläre Neurologie der Neurologischen Universitätsklinik Heidelberg. „Wir sind gefordert, dass Patienten unabhängig von der Entfernung zu einem Spezialisten behandelt werden können.“ Derzeit erfüllten etwa 100 der 256 zertifizierten Stroke Units in Deutschland die Mindestvoraussetzung von 100 Interventionen pro Jahr.

In einem aktuellen Übersichtsartikel warnen Diener und Prof. Dr. Werner Hacke, ehemaliger Ärztlicher Leiter und nun Seniorprofessor der Neurologischen Klinik der Universität Heidelberg, davor, diese Standards zu unterschreiten. „Zu viele konkurrierende Anbieter, wie z.B. in den USA, wo es in Regionen mit 500.000 Einwohnern 5 oder 6 endovaskuläre Zentren gibt, verhindern, dass ausreichende Behandlungszahlen, -qualität und Kosteneffektivität pro Zentrum erzielt werden, selbst wenn die Indikationen auf Patienten ausgeweitet werden, die in die Studien nicht einbezogen waren.“

Damit andererseits möglichst viele Patienten in Deutschland von der neuen Therapie profitieren können, fordern sie weitere interventionelle Behandlungseinheiten in Schlaganfallzentren und die intensive Ausbildung interventioneller Neuroradiologen. „Damit wollen wir sicherstellen, dass die rund 10.000 zusätzlichen radiologisch-interventionellen Eingriffe pro Jahr auch wirklich mit der notwendigen hohen Qualität durchgeführt werden können“, so Diener.

 

REFERENZEN:

1. 88. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Neurologie, 23. bis 26. September 2015, Düsseldorf

Kommentar

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