Neue US-Leitlinie beeinflusst Ernährungsempfehlungen weltweit: „Zweifel in nie dagewesenem Ausmaß“

Nadine Eckert

Interessenkonflikte

2. Oktober 2015

Ging beim diesjährigen Expertenbericht für die neuen Ernährungsrichtlinien in den USA nicht alles mit wissenschaftlich rechten Dingen zu? In einem Beitrag des British Medical Journal kritisiert die amerikanische Journalistin Nina Teicholz, dass der Bericht relevante Literatur zu entscheidenden Themen nicht widerspiegele und deshalb möglicherweise ein irreführendes Bild abgebe [1].

Dr. Johannes Scholl

Alle 5 Jahre geben das US-Landwirtschaftsministerium und das US-Gesundheitsministerium aktualisierte Ernährungsempfehlungen heraus. Die Dietary Guidelines for Americans haben weitreichenden Einfluss auf das Ernährungsverhalten von Millionen Amerikanern, die Mahlzeitenplanung in Schulen und Kantinen, die Zusammensetzung von industriell hergestellter Nahrung und auch Forschungsprioritäten. „Diese Richtlinien werden in den USA seit 1980 mit immensem Aufwand erstellt und beeinflussen Ernährungsempfehlungen auf der ganzen Welt, zum Beispiel auch der Deutschen Gesellschaft für Ernährung“, erklärt Dr. Johannes Scholl, niedergelassener Arzt für Präventivmedizin, gegenüber Medscape Deutschland.

Grundlage für die Richtlinien ist ein Bericht von 14 Experten, die von der US-Regierung ernannt werden. Ihre Aufgabe ist es, die beste verfügbare wissenschaftliche Evidenz zu identifizieren und zu begutachten, um dann Ernährungsempfehlungen zu geben, die die Gesundheit fördern und Krankheiten vorbeugen.

„Zweifel erreichen nie dagewesene Ausmaße“

„Die Zweifel am diesjährigen Bericht erreichen nie dagewesene Ausmaße. Bislang wurden etwa 29.000 öffentliche Kommentare eingereicht, verglichen mit gerade einmal 2000 in 2010“, berichtet Teicholz.

Das für 2010 ernannte Gremium habe sich noch Mühe gegeben, eine größere wissenschaftliche Strenge in den Prozess zu bringen, schreibt Teicholz, zum Beispiel indem es auf die Nutrition Evidence Library (NEL) zurückgriff, die vom US-Landwirtschaftsministerium eingerichtet worden sei, um bei der Durchführung von Reviews zu helfen. Doch das 2015er-Gremium habe die NEL für die Mehrzahl seiner Analysen nicht genutzt. Anstatt dessen verließ es sich stark auf systematische Reviews von Fachgesellschaften wie der American Heart Association (AHA) und dem American College of Cardiology (ACC), die von Nahrungsmittel- und Pharmafirmen unterstützt werden.

 
Die Zweifel am diesjährigen Bericht erreichen nie dagewesene Ausmaße. Nina Teicholz
 

„Fachgesellschaften sind selten frei von Einflüssen aus der Industrie“, bestätigte Scholl. So gibt das ACC an, 38% seiner Einnahmen von der Industrie zu beziehen, bei der AHA sind es 20%.

„Die Mitglieder des Expertengremiums, die nicht verpflichtet sind, potenzielle Interessenkonflikte offenzulegen, führten zudem Ad-hoc-Reviews der Literatur durch, und dies ohne systematische Kriterien zur Identifikation, Auswahl und Beurteilung von Studien“, moniert die Journalistin in ihrem Artikel.

Auf etablierte Review-Methoden zu verzichten „öffnet Tür und Tor nicht nur für potenziellen Bias sondern auch für Einflussnahme von außen und kommerzielle Interessen, und all dies ist in dem Bericht zu sehen“, stellt Teicholz fest. „Der vorherrschende Bias scheint der zu sein, möglichst die Ernährungsempfehlungen der letzten 35 Jahre zu bewahren.“

„Die Veränderungen gehen nicht weit genug“

„Es ist nicht so, dass sich gar nichts getan hat“, sagt Scholl. „Es ist zum Beispiel die Fettobergrenze gefallen und cholesterinhaltige Lebensmittel wie Eier gelten nicht mehr als ‚böse‘. Doch Frau Teicholz kritisiert ganz zu Recht, dass die Veränderungen nicht weit genug gehen und insbesondere die gesättigten Fettsäuren noch immer auf dem Index stehen, obwohl dies nicht von Evidenz untermauert wird.“

 
Der vorherrschende Bias scheint der zu sein, möglichst die Ernährungs- empfehlungen der letzten 35 Jahre zu bewahren. Nina Teicholz
 

„Angesichts des zunehmenden Tributs, den diese Krankheiten fordern, und des Versagens der existierenden Strategien im Kampf gegen Diabetes und Fettleibigkeit, würde man erwarten, dass das Richtliniengremium alle neuen, vielversprechenden Ernährungsstrategien begrüßen würde“, schreibt Teichholz. „Doch das Gremium hält größtenteils an denselben Ratschlägen fest, die es schon seit Jahrzehnten gibt – weniger gesättigte Fette (in Fleisch und Vollfettmilchprodukten) und mehr pflanzliche Lebensmittel zu essen.

Kritikpunkt gesättigte Fettsäuren: Evidenz widerspricht Expertenempfehlung

Zu gesättigte Fettsäuren führte das Gremium keinen formellen Review der Literatur der letzten 5 Jahre durch, obwohl seit 2010 mehrere bedeutende Artikel publiziert wurden, in denen keine Assoziation zwischen gesättigten Fettsäuren und Herzerkrankungen gezeigt werden konnte. „Trotz einer großen Masse an gegensätzlicher Evidenz aus den letzten fünf Jahre kommt der Bericht des Gremiums zu dem Schluss, dass die Evidenz, die den Konsum von gesättigten Fettsäuren mit kardiovaskulären Erkrankungen in Verbindung bringt, stark ist“, moniert Teicholz.

Auch zur Effektivität kohlenhydratreduzierter Ernährungsweisen forderte das Gremium von der NEL keinen systematischen Literaturreview der letzten 5 Jahre an. Doch Dutzende von randomisiert-kontrollierten Studien, die seit 2000 publiziert wurden, zeigen, dass kohlenhydratreduzierte Ernährungsweisen mindestens gleichwertig, wenn nicht sogar besser sind als andere Ernährungsansätze wenn es um die Kontrolle von Typ-2-Diabetes, kurzfristige Gewichtsreduktion und die Verbesserung der meisten kardialen Risikofaktoren gehe.

Vorsitzende: „Dafür hat man ein Expertengremium“

Nichtsdestotrotz seien die Experten überzeugt davon, dass sich der Bericht auf gute Wissenschaft stütze. Gegenüber dem British Medical Journal sagte die Vorsitzende des Expertengremiums, Prof. Dr. Barbara Millen: „Zu Themen, zu denen es bereits umfassende Richtlinien gab, haben wir keine gemacht. Wir haben diese Ressourcen und diese Zeit genutzt, um andere Fragen abzudecken“, erklärt sie. „Dafür hat man ein Expertengremium, … um Expertise einzubringen“, auch in Form „unserer eigenen Originalanalysen“.

 
In meiner präventivmedizinischen Praxis erlebe ich jeden Tag, dass Patienten keinen Ernährungsempfehlungen mehr Glauben schenken wollen, weil ‚die sich ja sowieso alle paar Jahre wieder ändern‘. Dr. Johannes Scholl
 

Zum Thema gesättigte Fettsäuren, so Millen, habe ihr Gremium „mit der Unterstützung der NEL und des US-Landwirtschaftsministeriums gearbeitet, um die Forschungsliteratur zu identifizieren.“ Zu kohlenhydratarmen Ernährungsweisen, sagt sie, habe es „keine wesentliche Evidenz“ gegeben, die man hätte berücksichtigen können“. Hinsichtlich der potenziellen Interessenkonflikte des Gremiums verwies sie darauf, dass die Mitglieder von Vertretern der Regierung überprüft worden seien.

Oft große Verunsicherung bei den Patienten

Am dringenden Bedarf an Ernährungsratschlägen, die auf solider Wissenschaft beruhen, ändere all dies nichts, argumentiert Teicholz. Und auch Scholl berichtet: „In meiner präventivmedizinischen Praxis erlebe ich jeden Tag, dass Patienten keinen Ernährungsempfehlungen mehr Glauben schenken wollen, weil ‚die sich ja sowieso alle paar Jahre wieder ändern‘.“ Dieser fatale Eindruck entstehe auch dadurch, dass immer wieder auf niedrigem oder keinem Evidenzniveau basierende Ernährungsempfehlungen „in die Welt hinausposaunt“ würden.

Trotz aller Zweifel und berechtigten Bedenken „geht der Bericht des Expertengremiums für die neuen US-Ernährungsleitlinien mit dem Verzicht auf eine Obergrenze für den Fettverzehr und der Rehabilitation cholesterinhaltiger Nahrungsmittel einen halben Schritt in die richtige Richtung“, sagt Scholl. „Es stellt sich die Frage, was die Deutsche Gesellschaft für Ernährung, die seit Jahrzehnten auf Low Fat und High Carb setzt, mit den neuen Empfehlungen machen wird. Es ist nicht leicht zuzugeben, dass man über viele Jahre basierend auf wackeliger Evidenz etwas Falsches gepredigt hat.“

Wie es in den USA weitergeht, steht dagegen schon fest: Der US-Kongress hat für Oktober eine Anhörung zum Bericht des Leitliniengremiums angesetzt, bei dem die Zweifel und Einsprüche gehört und geklärt werden sollen.

 

REFERENZEN:

1. Teicholz N: BMJ2015;351:h4962

Kommentar

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